Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 160

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 hält er die Schopfungsgeschichte nur vor eine Mosaische Allegorie      
  02 von der Zergliederung der Schopfung in dem göttlichen Unterrichte,      
  03 so wie sich die menschliche Erkentnis in Ansehung derselben am      
  04 natürlichsten entwickeln und ausbreiten läßt.      
           
  05 Ich erbitte mir nur bey nochmaliger Durchlesung des Buchs die      
  06 Bemühung: zu bemerken, ob der von mir darinn gefundene Sinn und      
  07 Beweisgrund wirklich so in dem Werke enthalten sey, und ob meine      
  08 Warnehmung noch einiger beträchtlichen Ergänzung oder Verbesserung      
  09 bedürfe.      
           
  10 Einige Bogen von Ihrer Hand zu lesen zu bekommen sind mir      
  11 Antrieb gnug, um alles Ansehen, was ich bey unserem selbst critisirenden      
  12 Verleger haben möchte, zu deren Beförderung anzuwenden. Aber      
  13 er versteht sich selbst so gut auf das, was er den Ton des Buchs, den      
  14 Geschmak des Publikum und die geheime Absicht des Verfassers nennt;      
  15 daß wenn es auch nicht an sich selbst eine ziemlich niedrige Bedienung      
  16 wäre, ich, um mein bischen Credit bey ihm nicht zu verlieren, doch      
  17 das Amt eines Hauscensors auf keine Weise übernehmen möchte.      
  18 Ich muß daher ungern auf die Ehre, welche der vielvermögenden      
  19 gravitaet eines Censors von dem demüthigen Verfasser gebührt, vor      
  20 diesesmal Verzicht thun. Auch ist Ihnen wohl bekannt: daß, was über      
  21 das Mittelmäßige hinaus ist, gerade seine Sache sey, wenn er nur      
  22 nicht vor sein politisch System Gefahr wittert, denn der Cours der      
  23 Actien komt hiebey vermuthlich nicht in Anschlag.      
           
  24 In der neuen academischen Erscheinung ist vor mich nichts Befremdendes.      
  25 Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daß critische      
  26 Kentnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit      
  27 die Grundveste ausmacht, auf die sie durch alle Zeitalter und in allen      
  28 Völkern erbauet seyn muß, so schleppt der, welcher im Griechisch      
  29 Hebräisch - Syrisch - arabischen etc imgleichen in den Archiven des      
  30 Alterthums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so      
  31 sauer sehen wie sie wollen, als Kinder, wohin er will; sie dürfen nicht      
  32 muchsen; denn sie können in dem, was nach ihrem eignen Geständniße      
  33 die Beweiskraft bey sich führt, sich mit ihm nicht messen, und sehen      
  34 schüchtern einen Michaelis ihren vieljährigen Schatz umschmeltzen und      
  35 mit ganz anderem Gepräge versehen. Wenn theologische Facultaeten      
  36 mit der Zeit in der Aufmerksamkeit nachlaßen solten, diese Art literatur      
  37 bey ihren Zöglingen zu erhalten, welches zum wenigsten bey uns der      
           
     

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