Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 166

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Beurtheilungen der Bücher kaum Eines etwas anders als vermeyntes      
  02 Stillungsmittel des Autorbedürfnißes sey, - mit nichten aber auf      
  03 bestimmte Leser gesehen werde      
  04 daß - o ich Thor - das alles und zwanzig mal mehr werden Sie so      
  05 stark, so deütlich, so mit Beyspielen belegt, so menschlich, so popular,      
  06 so treffend dehmütigend, so epochenmachend sagen - daß ich      
  07 nichts mehr zuwünschen haben werde.      
  08 Ich will gern mein Verlangen nach Ihrem Werke an meinem geringen      
  09 Ort mäßigen, wenn Sie glauben, daß Ihr Werk dadurch reifer      
  10 u: entscheidender werde. tausend Schriftsteller führen ihre Werke      
  11 nicht bis zum Epochenmachenden Entscheidungspunkt. Sie sind der      
  12 Mann dazu. Einsicht, Gelehrsamkeit, Geschmack - und jenes      
  13 menschliche, das abermal unzähligen Schriftstellern fehlt, u. das      
  14 die heütige Critick nur nicht in Betrachtung zunehmen, sich einfallen      
  15 läßt - Charakterisirt Ihre Schriften so sehr, daß ich mir von      
  16 Ihnen in dieser Absicht mehr als von keinem andern verspreche.      
  17 Pfenninger, zwar mein Herzensfreünd, wird Ihnen, hoff ich, ausnehmend      
  18 lieb werden. Seine Vorlesungen haben mir das seltene      
  19 Gepräge lichtvoller Menschlichkeit - Licht auf Einen Punkt gerichtet,      
  20 entflammt. Dieß arcanum der Schriftsteller, Redner, Predigerkunst      
  21 - wie wenige besitzens!      
           
  22 Indiscretion ists, ich empfind' es mächtig - aber ich glaube      
  23 eben so mächtig an Ihre Stärke - Indiscretionen tragen zukönnen,      
  24 u. Ihre Güte, sie tragen zuwollen - Indiscretion ists, wenn ich      
  25 Sie bitte, mir zu seiner Zeit, wenn Sie allenfalls den ersten Band      
  26 meiner vermischten Schriften gelesen haben, nur auf einem Blate,      
  27 mit aller möglichsten Schärfe, und der diamantesten Redlichkeit zusagen      
  28 - ob Sie meine eigentliche Meynung vom Glauben und Gebeth      
  29 für die Schriftlehre halten, oder nicht. Es ist mir nicht kaltes Dogma.      
  30 Es ist mir innigste Herzenssache. - aber statt zuantworten werden      
  31 die Leser Nichtleser und Rezensenten (:doch diese sollte man am allerwenigsten      
  32 unter die Leser zählen :) sich auf der Ferse wegdrehen: u:      
  33 Lieblingsmeynung! rufen. Das wird dann Antwort seynsollen.      
           
  34 So viel ich noch sagen mögte. Ich habe schon zuviel Zeit Ihnen      
  35 weggeschwazt. Leben Sie wol. Ich bin in einem großen Sinn Ihr      
  36 aufrichtig ergebner Lavater.      
           
  37 Zürich, den 8 April 1774.      
           
           
           
     

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