Kant: AA X, Briefwechsel 1783 , Seite 344

     
           
 

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    206.      
  02 An Moses Mendelssohn.      
           
  03 16. Aug. 1783.      
           
  04 Verehrungswürdiger Herr!      
           
  05 Allerdings konnte keine wirksamere Empfehlung vor den hoffnungsvollen      
  06 Iüngling den Sohn des HEn Gentz gefunden werden, als die,      
  07 von einem Manne, dessen Talente und Charakter ich vorzüglich hochschätze      
  08 und liebe, von welcher Gesinnung gegen Sie, es mir reitzend      
  09 ist zu sehen, daß Sie solche in mir voraussetzen und darauf rechnen,      
  10 ohne daß ich nöthig hätte Sie davon zu versichern. Auch kan ich jetzt      
  11 dem würdigen Vater dieses jungen Menschen, den ich in meine nähere      
  12 Bekanntschaft aufgenommen habe, mit Zuversicht die seinen Wünschen      
  13 vollkommen entsprechende Hofnung geben, ihn dereinst von unserer      
  14 Vniversitaet an Geist und Herz sehr wohl ausgebildet zurück zu erhalten;      
  15 bis ich dieses thun konte, ist meine sonst vorlängst schuldige Antwort      
  16 auf Ihr gütiges Schreiben aufgeschoben worden.      
           
  17 Die Reise nach dem Bade, von deren Gerüchte Sie so gütig sind      
  18 auf solche Art zu erwähnen, daß mir die Idee davon das Gemüth      
  19 mit angenehmen Bildern eines viel reitzendern Umganges, als ich ihn      
  20 jemals hier haben kan, erfüllet, ist auch allhier ausgebreitet gewesen,      
  21 ohne daß ich jemals den mindesten Anlaß dazu gegeben hätte. Eine      
  22 gewisse Gesundheitsregel, die ich, ich weiß nicht bey welchem engl:      
  23 Autor vor langer Zeit antraf, hat schon vorlängst den obersten Grundsatz      
  24 meiner Diaetetic ausgemacht: Ein jeder Mensch hat seine      
  25 besondere Art gesund zu seyn, an der er, ohne Gefahr, nichts      
  26 ändern darf. In Befolgung dieser Lehre habe ich zwar immer mit      
  27 Unpäßlichkeit zu kämpfen, ohne doch jemals krank zu seyn; übrigens      
  28 finde ich, daß man am längsten lebe, wenn man am wenigsten Sorge      
  29 trägt das Leben zu verlängern, doch mit der Behutsamkeit es nicht,      
  30 durch die Stöhrung der wohlthätigen Natur in uns, abzukürtzen.      
  31 Daß Sie sich der Metaphysik gleichsam vor abgestorben ansehen,      
  32 da ihr beynahe die ganze klügere Welt abgestorben zu seyn scheint,      
  33 befremdet mich nicht, ohne einmal jene Nervenschwäche (davon man      
  34 doch im Ierusalem nicht die mindeste Spuhr antrifft) hiebey in Betracht      
  35 zu ziehen. Daß aber an deren Stelle Critik, die nur damit umgeht,      
  36 den Boden zu jenem Gebäude zu untersuchen, Ihre scharfsinnige Aufmerksamkeit      
  37 nicht auf sich ziehen kan, oder sie alsbald wieder von sich      
           
     

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