Kant: AA X, Briefwechsel 1788 , Seite 555

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu nehmen. Daher ich die Ansicht des gründlichen Werks,      
  02 welches Sie jetzt anfangen, vor der Herausgabe nur in der Absicht      
  03 gewünscht habe, um, wo ein leicht zu hebender Misverstand vielen      
  04 künftigen Controversen zuvorkommen könnte, durch wechselseitige Mittheilung      
  05 (die hier, da wir uns so nahe sind, so leicht ist) dieses Geschäfte      
  06 zu erleichtern.      
           
  07 Erlauben Sie mir daher über die meinem Satze entgegengesetzten      
  08 Behauptung: daß Arithmetik keine synthetische Erkentnis a priori,      
  09 sondern blos analytische enthalte, einige Bedenklichkeiten anzuführen.      
           
  10 Die allgemeine Arithmetik (Algebra) ist eine dermaßen sich erweiternde      
  11 Wissenschaft, daß man keine der Vernunftwissenschaften      
  12 nennen kan, die es ihr hierinn gleich thäte, so gar, daß die übrige      
  13 Theile der reinen Mathesis ihren Wachsthum grostentheils von der      
  14 Erweiterung jener allgemeinen Größenlehre erwarten. Bestände diese      
  15 nun aus blos analytischen Urtheilen, so wäre wenigstens die Definition      
  16 der letzteren unrichtig, daß sie blos erläuternde Urtheile wären und      
  17 denn wäre es ein wichtiges, schweer zu beanwortendes Problem: Wie      
  18 ist Erweiterung des Erkentnisses durch blos analytische Urtheile      
  19 möglich      
           
  20 Von eben derselben Größe kan ich mir, durch mancherley Art der      
  21 Zusammensetzung und Trennung, (beydes aber, sowohl Addition als      
  22 Subtraction ist Synthesis) einen Begrif machen, der obiectiv zwar      
  23 identisch ist (wie in jeder Aeqvation) subiectiv aber, nach der Art der      
  24 Zusammensetzung, die ich denke, um zu jenem Begriffe zu gelangen,      
  25 sehr verschieden ist, so, daß das Urtheil über den Begrif, den ich von      
  26 der Synthesis habe, allerdings hinaus geht, indem es eine andere Art      
  27 derselben (welche einfacher und der Construction angemessener ist) an      
  28 die Stelle der ersteren setzt, die gleichwohl immer das Obiect auf eben      
  29 dieselbe Art bestimmt. So kan ich durch 3 + 5 durch 12 - 4 durch      
  30 2 * 4 durch 2 hoch 3 zu einerley Bestimmung einer Große = 8 gelangen      
  31 Allein in meinem Gedanken 3 + 5 war doch der Gedanke 2 * 4 gar      
  32 nicht enthalten; eben so wenig also auch der Begrif von 8 welcher mit      
  33 beyden einerley Werth hat.      
           
  34 Die Arithmetik hat freylich keine Axiomen, weil sie eigentlich      
  35 kein Quantum, d. i. keinen Gegenstand der Anschauung als Größe,      
  36 sondern blos die Qvantität, d. i. einen Begrif von einem Dinge      
  37 überhaupt durch Größenbestimmung zum Obiecte hat. Sie hat aber      
           
     

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