Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 023

     
           
 

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    664.      
  02 Von Iohann Gottfried Carl Christian Kiesewetter.      
           
  03 Berlin den 8 t Iuni 1795.      
           
  04 Werthgeschätzter HErr Professor,      
           
  05 Ich nehme mir die Freiheit Ihnen die zweite Auflage meiner      
  06 Logik und das andere Werkchen was von mir in dieser Messe erschienen      
  07 ist, zu überschicken; und ich würde mich glücklich schätzen, wenn      
  08 Sie meine Arbeiten Ihrer Aufmerksamkeit nicht ganz unwürdig hielten.      
  09 So sehr ich mich auch in dem letztern Buch bemüht habe, die Resultate      
  10 Ihres Scharfsinns populär vorzutragen so viel bleibt mir dennoch zu      
  11 wünschen übrig und ich habe nur zu sehr empfunden, daß das bloße      
  12 Verstehen und Begreifen uns nicht so gleich in den Stand setzt unsere      
  13 Erkenntniße à portçe de tout le monde vorzutragen. Den Vorwurf      
  14 etwas wichtiges aus Ihrem System übergangen zu haben, fürchte ich      
  15 nicht, wohl aber den, daß ich noch manches hätte herauslaßen sollen,      
  16 weil es dem im Philosophieren ungeübten Leser zu schwer werden      
  17 möchte. Die Lehre von Raum und Zeit scheint mir ziemlich faßlich      
  18 dargestellt zu sein, aber mehr Schwierigkeiten wird der Leser bei der      
  19 Deduction der Categorien und bei der Aufstellung der reinen Verstandesgesetze      
  20 finden. Die Deduction des Moralprinzips und die Beantwortung      
  21 der Frage: was darf ich hoffen? hat mir weniger Anstrengung      
  22 gekostet. Sollten Kenner mit diesem Werkchen nicht unzufrieden sein,      
  23 so wäre ich entschlossen auf eine ähnliche Art die Critik der Urtheilskraft      
  24 zu bearbeiten, ein Werk an dem meine ganze Seele hängt.      
           
  25 Zu meiner großen Betrübniß ist diese Messe nichts von Ihnen      
  26 erschienen, so sehr ich dis auch gewünscht habe. Ihre Handbücher der      
  27 Metaphysik und Moral werden wir freilich wohl noch eine Zeitlang erwarten      
  28 müssen, aber Sie haben schon seit einigen Iahren einige Bogen      
  29 dem Publiko schenken wollen, die den Übergang von Ihren metaph.      
  30 Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik selbst enthalten sollten      
  31 und auf die ich sehr begierig bin. - Es ist mir eine sehr auffallende      
  32 Erscheinung daß so sehr man Ihre übrigen Schriften genützt, erklärt,      
  33 ausgezogen, erläutert u.s.w. hat, sich doch nur sehr wenige bis jetzt      
  34 erst mit den metaph. Anfangsgründen der Naturwissenschaft beschäftigt      
  35 haben. Ob man den unendlichen Werth dieses Buchs nicht einsieht,      
  36 oder ob man es zu schwierig findet, weiß ich nicht. Mir ist jetzt keine      
           
     

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