Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 031

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 [Beilage.]      
  02 Gedruckt als Anhang zu Sömmerring, Über das Organ der Seele. Königsberg      
  03 1796. S. 81-86.      
           
  04 Sie legen mir, Würdiger Mann! Ihr vollendetes Werk über ein      
  05 gewisses Princip der Lebenskraft in thierischen Körpern, welches, von      
  06 Seiten des bloßen Wahrnehmungsvermögens, das unmittelbare      
  07 Sinnenwerkzeug (πρωτον Αισθητηριον), von Seiten der Vereinigung      
  08 aller Wahrnehmungen aber in einem gewissen Theile des Gehirns, der      
  09 gemeinsame Empfindungsplatz ( sensorium commune ) genannt wird,      
  10 zur Beurtheilung vor: welche Ehre, sofern sie mir, als einem in der      
  11 Naturkunde nicht ganz Unbewanderten, zugedacht wird, ich mit allem      
  12 Dank erkenne. - Es ist aber damit noch eine Anfrage an die Metaphysik      
  13 verbunden (deren Orakel, wie man sagt, längst verstummt ist);      
  14 und das setzt mich in Verlegenheit, ob ich diese Ehre annehmen soll      
  15 oder nicht: denn es ist darin auch die Frage vom Sitz der Seele      
  16 ( sedes animae ) enthalten, so wohl in Ansehung ihrer Sinnenempfänglichkeit      
  17 ( facultas sensitiue percipiendi ), als auch ihres Bewegungsvermögens      
  18 ( facultas locomotiua ). Mithin wird ein Responsum gesucht,      
  19 über das zwey Facultäten wegen ihrer Gerichtsbarkeit (das      
  20 forum competens ) in Streit gerathen können, die medicinische, in      
  21 ihrem anatomisch=physiologischen, mit der philosophischen, in ihrem      
  22 psychologisch=metaphysischen Fache, wo, wie bei allen Coalitionsversuchen,      
  23 zwischen denen die auf empirische Principien alles      
  24 gründen wollen, und denen welche zu oberst Gründe a priori verlangen      
  25 (ein Fall der sich in den Versuchen der Vereinigung der reinen      
  26 Rechtslehre mit der Politik, als empirisch=bedingter, imgleichen der      
  27 reinen Religionslehre mit der geoffenbarten, gleichfalls als empirischbedingter,      
  28 noch immer zuträgt) Unannehmlichkeiten entspringen, die      
  29 lediglich auf den Streit der Facultäten beruhen, für welche die Frage      
  30 gehöre, wenn bey einer Universität (als alle Weisheit befassender Anstalt)      
  31 um ein Responsum angesucht wird. - Wer es in dem gegenwärtigen      
  32 Falle dem Mediciner als Physiologen zu Dank macht, der      
  33 verdirbt es mit dem Philosophen als Metaphysiker; und umgekehrt,      
  34 wer es diesem recht macht, verstößt wider den Physiologen.      
           
  35 Eigentlich ist es aber der Begriff von einem Sitz der Seele,      
  36 welcher die Uneinigkeit der Facultäten über das gemeinsame Sinnenwerkzeug      
  37 veranlaßt, und den man daher besser thut ganz aus dem      
           
     

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