Kant: AA XII, Briefwechsel 1798 , Seite 230

     
           
 

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    794.      
  02 Von Iohann Gottlieb Fichte.      
           
  03 1. Ian. 1798.      
           
  04 Verehrungswürdiger Freund und Lehrer.      
           
  05 Meinen innigsten Dank für Ihr gütiges Schreiben, welches meinem      
  06 Herzen wohlthätig war. Meine Verehrung für Sie ist zu groß als      
  07 daß ich Ihnen irgend etwas übel nehmen könnte; und noch dazu etwas      
  08 so leicht zu erklärendes, als Ihre verzögerte Antwort: aber es würde      
  09 mich betrübt haben, Ihre gute Meinung, die ich mir erworben zu      
  10 haben glaubte, wieder verloren zu haben. Ich lebe im Mittelpuncte      
  11 der literarischen Anekdotenjägerei, und Klätscherei; (ich meine damit      
  12 nicht sowohl unser Iena; denn hier haben wir größtentheils ernfthaftere      
  13 Beschäftigungen, als den ganzen Umkreis, der uns umgiebt) und hatte      
  14 seit Iahren mancherlei hören müssen. Ich kann mir sehr wohl denken      
  15 wie man endlich der Speculation satt werden müsse. Sie ist nicht      
  16 die natürliche Atmosphäre des Menschen; sie ist nicht Zweck, sondern      
  17 Mittel. Wer den Zweck, die völlige Ausbildung seines Geistes, die      
  18 vollkommne Uebereinstimmung mit sich selbst, erreicht hat, der läßt das      
  19 Mittel liegen. Dies ist Ihr Zustand, verehrungswürdiger Greis.      
           
  20 Da Sie selbst sagen, daß "Sie die Subtilität der theoretischen      
  21 Speculation, besonders was ihre neuere äußerst zugespitzte Apices      
  22 betrifft, gern Andern überlassen" so bin ich desto ruhiger wegen der      
  23 mißbilligenden Urtheile über mein System, welche fast Ieder, der sich      
  24 zu dem zahlreichen Heere der deutschen Philosophen rechnet, von Ihnen      
  25 in den Händen zu haben vorgiebt; wie denn noch ganz neuerlich Herr      
  26 Bouterweck, der genügsame Recensent Ihrer Rechtslehre, und der      
  27 Reinhold'schen Vermischten Schriften, in den Göttingischen Anzeigen,      
  28 ein solches von Ihnen erhalten haben will; wie ich durch den Canal      
  29 meiner Zuhörer vernehme. - Dies ist nun so die Welt, in der ich lebe.      
           
  30 Es gereicht mir zum lebhaftesten Vergnügen, daß meine Darstellung      
  31 Ihren Beifall findet. Ich glaube es nicht zu verdienen, wenn      
  32 derselbe Bouterweck sie für barbarisch (in den Göttingschen Anzeigen)      
  33 ausschreit. Ich schätze das Verdienst der Darstellung sehr hoch, und      
  34 bin mir einer großen Sorgfalt bewußt, die ich sehr früh angewendet,      
  35 um eine Fertigkeit darin zu erhalten; und werde nie ablassen, da      
  36 wo es die Sache erlaubt, Fleiß auf sie zu wenden. Deswegen      
           
     

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