Kant: AA XII, Briefwechsel 1798 , Seite 253

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sehr mangelhaftes, einseitiges und unrichtiges, - an welchem ich einigen      
  02 Antheil hatte, veranlaßt wurde: und das Andenken an diese kurze,      
  03 aber einer persönlichen Bekanntschaft näher kommende Verbindung ist      
  04 mir noch sehr viel werth. Die Art, mit welcher Sie meine Aufrichtigkeit,      
  05 mit der ich Ihnen diesen Antheil eröffnete, und die Rechtfertigung,      
  06 durch welche ich Ihnen zeigte, wie gering und unwillkührlich      
  07 dieser Antheil gewesen sey, aufnahmen, ließ mich die Gute und      
  08 den Edelmuth ihres Charakters entdecken, da ich bis dahin nur den      
  09 Umfang und die Tiefe Ihres Geistes gekannt hatte. Ich wünschte      
  10 nun noch, am Ziele meines Lebens, oder während meiner Annäherung      
  11 zu demselben, in diese Verbindung mit Ihnen zurückzutreten.      
  12 Ich weiß gewiß, daß Sie mein Verlangen darnach auf eine ähnliche      
  13 Weise, wie ehedem, beantworten werden; und ich wünsche es, bey einem      
  14 solchen Zustande meines Geistes, als der gegenwärtige ist, zu erfahren,      
  15 wie Sie über diese Schrift urtheilen, und noch mehr, welche Gesinnung      
  16 sie Ihnen gegen mich eingeflößt hat. Ich sage nichts von ihr selbst:      
  17 sie liegt vor Ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß ich an sehr vielen      
  18 Orten in der Auffassung Ihrer Ideen geirrt, und besonders meine eigenen      
  19 mit eingemischt habe: ich bin noch mehr überzeugt, daß meine      
  20 Gegengründe noch weit mehr Unrichtigkeiten enthalten, und daß ich      
  21 Kennern der Philosophie viele Blößen gebe. Indeß wird Sie das      
  22 nicht abhalten, Nachforschungen nach der Wahrheit zu schätzen, auch      
  23 wenn die Wahrheit nicht gefunden ist; es wird Sie nicht abhalten,      
  24 den Fleiß und die Sorgfalt zu erkennen, welchen ich auf das Studium      
  25 Ihrer Schriften gewandt habe; und Sie werden wenigstens den Leichtsinn,      
  26 die Kürze, und die Oberflächlichkeit jener ersten Recension, dieser      
  27 meiner letzten nicht zuschreiben können.      
           
  28 Sie sind, theurer Mann, so viel ich weiß, in einem hohen Alter,      
  29 und Sie genießen eines gesunden Alters. Die Natur hat Sie mit großen      
  30 Geistesgaben ausgerüstet, und sie hat Ihnen auch Gesundheit und körperliche      
  31 Kräfte gegeben, um jene Gaben in einem langen Leben zum      
  32 Besten der Welt und der Wissenschaften anzuwenden. Mir ist nicht      
  33 ein so glückliches Loos in der Lotterie des Lebens gefallen. Mit einigen      
  34 glücklichen Naturanlagen geboren, und durch ein anhaltendes Studium      
  35 mit den Wissenschaften vertrauter geworden, bin ich doch, durch      
  36 das beständige Kämpfen mit einem kränklichen Körper, in meinem eignen      
  37 Fortgange in Kenntnissen und in den Arbeiten, durch welche ich      
           
     

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