Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 076

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 mit vorurtheilfreier Denkungsart anderer Gedanken gelesen und durch damit      
  02 verknüpftes Nachdenken sie sich eigen gemacht hat, er das Urtheil über      
  03 seine neue und abweichende Lehrsätze ziemlich sicher dem Leser überlassen      
  04 kann, so will ich doch nur mit wenig Worten darauf führen.      
           
  05 Die Wolffische Erklärung des Daseins, daß es eine Ergänzung der      
  06 Möglichkeit sei, ist offenbar sehr unbestimmt. Wenn man nicht schon vorher      
  07 weiß, was über die Möglichkeit in einem Dinge kann gedacht werden,      
  08 so wird man es durch diese Erklärung nicht lernen. Baumgarten führt      
  09 die durchgängige innere Bestimmung, in so fern sie dasjenige ergänzt, was      
  10 durch die im Wesen liegende oder daraus fließende Prädicate unbestimmt      
  11 gelassen ist, als dasjenige an, was im Dasein mehr als in der bloßen Möglichkeit      
  12 ist; allein wir haben schon gesehen, daß in der Verbindung eines      
  13 Dinges mit allen erdenklichen Prädicaten niemals ein Unterschied desselben      
  14 von einem blos Möglichen liege. Überdem kann der Satz, daß ein möglich      
  15 Ding, als ein solches betrachtet, in Ansehung vieler Prädicate unbestimmt      
  16 sei, wenn er so nach dem Buchstaben genommen wird, eine große Unrichtigkeit      
  17 veranlassen. Denn die Regel der Ausschließung eines Mittlern zwischen      
  18 zwei widersprechend entgegen Gesetzten verbietet dieses, und es ist daher      
  19 z. E. ein Mensch, der nicht eine gewisse Statur, Zeit, Alter, Ort u. d. g.      
  20 hätte, unmöglich. Man muß ihn vielmehr in diesem Sinne nehmen: durch      
  21 die an einem Dinge zusammengedachte Prädicate sind viele andere ganz      
  22 und gar nicht bestimmt, so wie durch dasjenige, was in dem Begriff eines      
  23 Menschen als eines solchen zusammengenommen ist, in Ansehung der besondern      
  24 Merkmale des Alters, Orts u. s. w. nichts ausgemacht wird. Aber      
  25 diese Art der Unbestimmtheit ist alsdann eben so wohl bei einem existirenden      
  26 als bei einem blos möglichen Dinge anzutreffen, weswegen dieselbe zu keinem      
  27 Unterschiede beider kann gebraucht werden. Der berühmte Crusius      
  28 rechnet das Irgendwo und Irgendwenn zu den untrüglichen Bestimmungen      
  29 des Daseins. Allein ohne uns in die Prüfung des Satzes selber, daß alles,      
  30 was da ist, irgendwo oder irgendwenn sein müsse, einzulassen, so gehören      
  31 diese Prädicate noch immer auch zu blos möglichen Dingen. Denn so      
  32 könnte an manchen bestimmten Orten mancher Mensch zu einer gewissen      
  33 Zeit existiren, dessen alle Bestimmungen der Allwissende, so wie sie ihm      
  34 beiwohnen würden, wenn er existirte, wohl kennt, und der gleichwohl wirklich      
  35 nicht da ist; und der ewige Jude Ahasverus nach allen Ländern, die      
  36 er durchwandern, oder allen Zeiten, die er durchleben soll, ist ohne Zweifel      
  37 ein möglicher Mensch. Man wird doch hoffentlich nicht fordern, daß das      
           
     

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