Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 281

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ferner liegen in der Mathematik nur wenig unerweisliche Sätze      
  02 zum Grunde, welche, wenn sie gleich anderwärts noch eines Beweises fähig      
  03 wären, dennoch in dieser Wissenschaft als unmittelbar gewiß angesehen      
  04 werden: Das Ganze ist allen Theilen zusammen genommen      
  05 gleich; zwischen zwei Punkten kann nur eine gerade Linie      
  06 sein etc. Dergleichen Grundsätze sind die Mathematiker gewohnt im      
  07 Anfange ihrer Disciplinen aufzustellen, damit man gewahr werde, daß      
  08 keine andere als so augenscheinliche Sätze gerade zu als wahr vorausgesetzt      
  09 werden, alles übrige aber strenge bewiesen werde.      
           
  10 Vergleicht man hiermit die Weltweisheit und namentlich die Metaphysik,      
  11 so möchte ich nur gerne eine Tafel von den unerweislichen Sätzen,      
  12 die in diesen Wissenschaften durch ihre ganze Strecke zum Grunde liegen,      
  13 aufgezeichnet sehen. Sie würde gewiß einen Plan ausmachen, der unermeßlich      
  14 wäre; allein in der Aufsuchung dieser unerweislichen Grundwahrheiten      
  15 besteht das wichtigste Geschäfte der höhern Philosophie, und diese      
  16 Entdeckungen werden niemals ein Ende nehmen, so lange sich eine solche      
  17 Art der Erkenntniß erweitern wird. Denn welches Object es auch sei, so      
  18 sind diejenige Merkmale, welche der Verstand an ihm zuerst und unmittelbar      
  19 wahrnimmt, die Data zu eben so viel unerweislichen Sätzen, welche      
  20 denn auch die Grundlage ausmachen, woraus die Definitionen können      
  21 erfunden werden. Ehe ich noch mich anschicke zu erklären, was der Raum      
  22 sei, so sehe ich deutlich ein, daß, da mir dieser Begriff gegeben ist, ich zuvörderst      
  23 durch Zergliederung diejenige Merkmale, welche zuerst und unmittelbar      
  24 hierin gedacht werden, aufsuchen müsse. Ich bemerke demnach,      
  25 daß darin vieles außerhalb einander sei, daß dieses Viele nicht Substanzen      
  26 seien, denn ich will nicht die Dinge im Raume, sondern den Raum selber      
  27 erkennen, daß der Raum nur drei Abmessungen haben könne etc. Dergleichen      
  28 Sätze lassen sich wohl erläutern, indem man sie in concreto betrachtet,      
  29 um sie anschauend zu erkennen; allein sie lassen sich niemals beweisen.      
  30 Denn woraus sollte dieses auch geschehen können, da sie die erste      
  31 und einfachste Gedanken ausmachen, die ich von meinen Objecte nur haben      
  32 kann, wenn ich ihn anfange zu gedenken? In der Mathematik sind die      
  33 Definitionen der erste Gedanke, den ich von dem erklärten Dinge haben      
  34 kann, darum weil mein Begriff des Objects durch die Erklärung allererst      
  35 entspringt, und da ist es schlechterdings ungereimt, sie als erweislich anzusehen.      
  36 In der Weltweisheit, wo mir der Begriff der Sache, die ich erklären      
  37 soll, gegeben ist, muß dasjenige, was unmittelbar und zuerst in ihm      
           
     

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