Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 291

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nothwendigkeit einer Wahrheit an, in so fern er aber subjective betrachtet      
  02 wird, so ist er in so fern größer, als die Erkenntniß dieser Nothwendigkeit      
  03 mehr Anschauung hat. In beider Betrachtung ist die mathematische Gewißheit      
  04 von anderer Art als die philosophische. Ich werde dieses auf      
  05 das augenscheinlichste darthun.      
           
  06 Der menschliche Verstand ist so wie jede andre Kraft der Natur an      
  07 gewisse Regeln gebunden. Man irrt nicht deswegen, weil der Verstand      
  08 die Begriffe regellos verknüpft, sondern weil man dasjenige Merkmal,      
  09 was man in einem Dinge nicht wahrnimmt, auch von ihm verneint und      
  10 urtheilt, daß dasjenige nicht sei, wessen man sich in einem Dinge nicht      
  11 bewußt ist. Nun gelangt erstlich die Mathematik zu ihren Begriffen      
  12 synthetisch und kann sicher sagen: was sie sich in ihrem Objecte durch die      
  13 Definition nicht hat vorstellen wollen, das ist darin auch nicht enthalten.      
  14 Denn der Begriff des Erklärten entspringt allererst durch die Erklärung      
  15 und hat weiter gar keine Bedeutung als die, so ihm die Definition giebt.      
  16 Vergleicht man hiemit die Weltweisheit und namentlich die Metaphysik,      
  17 so ist sie in ihren Erklärungen weit unsicherer, wenn sie welche wagen will.      
  18 Denn der Begriff des zu Erklärenden ist gegeben. Bemerkt man nun ein      
  19 oder das andre Merkmal nicht, was gleichwohl zu seiner hinreichenden      
  20 Unterscheidung gehört, und urtheilt, daß zu dem ausführlichen Begriffe      
  21 kein solches Merkmal fehle, so wird die Definition falsch und trüglich.      
  22 Wir könnten dergleichen Fehler durch unzählige Beispiele vor Augen legen,      
  23 ich beziehe mich aber desfalls nur auf das oben Angeführte von der Berührung.      
  24 Zweitens betrachtet die Mathematik in ihren Folgerungen      
  25 und Beweisen ihre allgemeine Erkenntniß unter den Zeichen in concreto ,      
  26 die Weltweisheit aber neben den Zeichen noch immer in abstracto . Dieses      
  27 macht einen namhaften Unterschied aus in der Art beider zur Gewißheit      
  28 zu gelangen. Denn da die Zeichen der Mathematik sinnliche Erkenntnißmittel      
  29 sind, so kann man mit derselben Zuversicht, wie man dessen, was      
  30 man mit Augen sieht, versichert ist, auch wissen, daß man keinen Begriff      
  31 aus der Acht gelassen, daß eine jede einzelne Vergleichung nach leichten      
  32 Regeln geschehen sei etc. Wobei die Aufmerksamkeit dadurch sehr erleichtert      
  33 wird, daß sie nicht die Sachen in ihrer allgemeinen Vorstellung,      
  34 sondern die Zeichen in ihrer einzelnen Erkenntniß, die da sinnlich ist, zu      
  35 gedenken hat. Dagegen helfen die Worte, als die Zeichen der philosophischen      
  36 Erkenntniß, zu nichts als der Erinnerung der bezeichneten allgemeinen      
  37 Begriffe. Man muß ihre Bedeutung jederzeit unmittelbar vor      
           
     

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