Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 298

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 2.
     
  02
Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen
     
  03
Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig.
     
           
  04 Um dieses deutlich zu machen, will ich nur zeigen, wie wenig selbst      
  05 der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist, und wie entfernt      
  06 man also davon sein müsse, in der praktischen Weltweisheit die zur Evidenz      
  07 nöthige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundsätze      
  08 zu liefern. Man soll dieses oder jenes thun und das andre lassen;      
  09 dies ist die Formel, unter welcher eine jede Verbindlichkeit ausgesprochen      
  10 wird. Nun drückt jedes Sollen eine Nothwendigkeit der Handlung aus      
  11 und ist einer zwiefachen Bedeutung fähig. Ich soll nämlich entweder      
  12 etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als einen Zweck)      
  13 will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun      
  14 und wirklich machen. Das erstere könnte man die Nothwendigkeit der      
  15 Mittel ( necessitatem problematicam ), das zweite die Nothwendigkeit der      
  16 Zwecke ( necessitatem legalem ) nennen. Die erstere Art der Nothwendigkeit      
  17 zeigt gar keine Verbindlichkeit an, sondern nur die Vorschrift als die      
  18 Auflösung in einem Problem, welche Mittel diejenige sind, deren ich mich      
  19 bedienen müsse, wie ich einen gewissen Zweck erreichen will. Wer einem      
  20 andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse,      
  21 wenn er seine Glückseeligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht      
  22 alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdann nicht      
  23 mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre,      
  24 zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche      
  25 Theile zerfällen will, d. i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur      
  26 Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen      
  27 will. Da nun der Gebrauch der Mittel keine andere Nothwendigkeit      
  28 hat, als diejenige, so dem Zwecke zukommt, so sind so lange alle Handlungen,      
  29 die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt,      
  30 zufällig und können keine Verbindlichkeiten heißen, so lange sie nicht einem      
  31 an sich nothwendigen Zwecke untergeordnet werden. Ich soll z. E. die gesammte      
  32 größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes      
  33 gemäß handlen; welchem auch von diesen beiden Sätzen die ganze praktische      
  34 Weltweisheit untergeordnet würde, so muß dieser Satz, wenn er eine      
  35 Regel und Grund der Verbindlichkeit sein soll, die Handlung als unmittelbar      
  36 nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebieten.      
           
     

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