Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 342

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
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Drittes Hauptstück.

     
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Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie,

     
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die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben.

     
           
  04 Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir      
  05 eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder      
  06 seine eigne. Mich dünkt, man sollte wohl den letzteren Satz umkehren      
  07 und sagen können: wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher      
  08 seine eigene Welt hat, so ist zu vermuthen, daß sie träumen. Auf diesen      
  09 Fuß, wenn wir die Luftbaumeister der mancherlei Gedankenwelten betrachten,      
  10 deren jeglicher die seinige mit Ausschließung anderer ruhig bewohnt,      
  11 denjenigen etwa, welcher die Ordnung der Dinge, so wie sie von      
  12 Wolffen aus wenig Bauzeug der Erfahrung, aber mehr erschlichenen      
  13 Begriffen gezimmert, oder die, so von Crusius durch die magische Kraft      
  14 einiger Sprüche vom Denklichen und Undenklichen aus Nichts hervorgebracht      
  15 worden, bewohnt, so werden wir uns bei dem Widerspruche      
  16 ihrer Visionen gedulden, bis diese Herren ausgeträumt haben. Denn      
  17 wenn sie einmal, so Gott will, völlig wachen, d. i. zu einem Blicke, der die      
  18 Einstimmung mit anderem Menschenverstande nicht ausschließt, die Augen      
  19 aufthun werden, so wird niemand von ihnen etwas sehen, was nicht jedem      
  20 andern gleichfalls bei dem Lichte ihrer Beweisthümer augenscheinlich und      
  21 gewiß erscheinen sollte, und die Philosophen werden zu derselbigen Zeit      
  22 eine gemeinschaftliche Welt bewohnen, dergleichen die Größenlehrer schon      
  23 längst inne gehabt haben, welche wichtige Begebenheit nicht lange mehr      
  24 anstehen kann, wofern gewissen Zeichen und Vorbedeutungen zu trauen      
  25 ist, die seit einiger Zeit über dem Horizonte der Wissenschaften erschienen      
  26 sind.      
           
  27 In gewisser Verwandtschaft mit den Träumern der Vernunft      
  28 stehen die Träumer der Empfindung, und unter dieselbe werden gemeiniglich      
  29 diejenige, so bisweilen mit Geistern zu thun haben, gezählt      
  30 und zwar aus dem nämlichen Grunde wie die vorigen, weil sie etwas      
  31 sehen, was kein anderer gesunder Mensch sieht, und ihre eigene Gemeinschaft      
  32 mit Wesen haben, die sich niemanden sonst offenbaren, so gute      
  33 Sinne er auch haben mag. Es ist auch die Benennung der Träumereien,      
  34 wenn man voraussetzt, daß die gedachte Erscheinungen auf bloße Hirngespenster      
  35 auslaufen, in so fern passend, als die eine so gut wie die andere      
           
     

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