Kant: AA XX, Preisschrift über die ... , Seite 259

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Königliche Academie der Wissenschaften verlangt, die Fortschritte      
  02 eines Theiles der Philosophie, in einem Theile des gelehrten Europa, und      
  03 auch für einen Theil des laufenden Jahrhunderts aufzuzählen.      
           
  04 Das scheint eine leicht zu lösende Aufgabe zu seyn, denn sie betrifft      
  05 nur die Geschichte, und wie die Fortschritte der Astronomie und Chemie,      
  06 als empirische Wissenschaften, schon ihre Geschichtschreiber gefunden haben,      
  07 die aber der mathematischen Analysis, oder der reinen Mechanik, die in      
  08 demselben Lande, in derselben Zeit gemacht worden, die ihrige, wenn      
  09 man will, auch bald finden werden: so scheint es mit der Wissenschaft,      
  10 wovon hier die Rede ist, eben so wenig Schwierigkeit zu haben. —      
           
  11 Aber diese Wissenschaft ist Metaphysik, und das ändert die Sache      
  12 ganz und gar. Dies ist ein uferloses Meer, in welchem der Fortschritt      
  13 keine Spur hinterläßt, und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält,      
  14 an dem, um wieviel man sich ihm genähert habe, wahrgenommen werden      
  15 könnte. — In Ansehung dieser Wissenschaft, welche selbst fast immer nur      
  16 in der Idee gewesen ist, ist die vorgelegte Aufgabe sehr schwer, fast nur      
  17 an der Möglichkeit der Auflösung derselben zu verzweifeln, und, sollte sie      
  18 auch gelingen, so vermehrt noch die vorgeschriebene Bedingung, die Fortschritte,      
  19 welche sie gemacht hat, in einer kurzen Rede vor Augen zu stellen,      
  20 diese Schwierigkeit. Denn Metaphysik ist ihrem Wesen, und ihrer Endabsicht      
  21 nach, ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles. Was zu      
  22 ihrem Endzweck erforderlich ist, kann also nicht, wie etwa Mathematik oder      
  23 empirische Naturwissenschaft, die ohne Ende immer fortschreiten, fragmentarisch      
  24 abgehandelt werden. — Wir wollen es gleichwohl versuchen.      
           
  25 Die erste und nothwendigste Frage ist wohl: Was die Vernunft      
  26 eigentlich mit der Metaphysik will? welchen Endzweck sie mit ihrer Bearbeitung      
  27 vor Augen habe? denn groß, vielleicht der größeste, ja, alleinige      
  28 Endzweck, den die Vernunft in ihrer Speculation je beabsichtigen kann,      
  29 weil alle Menschen mehr oder weniger daran Theil nehmen, und nicht      
  30 zu begreifen ist, warum bey der sich immer zeigenden Fruchtlosigkeit ihrer      
  31 Bemühungen in diesem Felde, es doch umsonst war, ihnen zuzurufen:      
  32 sie sollten doch endlich einmal aufhören, diesen Stein des Sisyphus      
           
           
           
     

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