Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 028

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Es ist also wenigstens eine der näheren Untersuchung noch benöthigte      
  02 und nicht auf den ersten Anschein sogleich abzufertigende Frage: ob es ein      
  03 dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne      
  04 unabhängiges Erkenntniß gebe. Man nennt solche Erkenntnisse a priori,      
  05 und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori,      
  06 nämlich in der Erfahrung, haben.      
           
  07 Jener Ausdruck ist indessen noch nicht bestimmt genug, um den ganzen      
  08 Sinn der vorgelegten Frage angemessen zu bezeichnen. Denn man pflegt      
  09 wohl von mancher aus Erfahrungsquellen abgeleiteten Erkenntniß zu      
  10 sagen, daß wir ihrer a priori fähig oder theilhaftig sind, weil wir sie nicht      
  11 unmittelbar aus der Erfahrung, sondern aus einer allgemeinen Regel,      
  12 die wir gleichwohl selbst doch aus der Erfahrung entlehnt haben, ableiten.      
  13 So sagt man von jemand, der das Fundament seines Hauses untergrub:      
  14 er konnte es a priori wissen, daß es einfallen würde, d. i. er durfte nicht      
  15 auf die Erfahrung, daß es wirklich einfiele, warten. Allein gänzlich      
  16 a priori konnte er dieses doch auch nicht wissen. Denn daß die Körper      
  17 schwer sind und daher, wenn ihnen die Stütze entzogen wird, fallen, mußte      
  18 ihm doch zuvor durch Erfahrung bekannt werden.      
           
  19 Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen a priori nicht solche      
  20 verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von      
  21 aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse      
  22 oder solche, die nur a posteriori, d. i. durch Erfahrung, möglich sind,      
  23 entgegengesetzt. Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen      
  24 rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z. B. der      
  25 Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein      
  26 nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung      
  27 gezogen werden kann.      
           
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II

     
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Wir sind im Besitze gewisser Erkenntnisse a priori, und selbst

     
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der gemeine Verstand ist niemals ohne solche.

     
           
  31 Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntniß      
  32 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns      
  33 zwar, daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders      
  34 sein könne. Findet sich also erstlich ein Satz, der zugleich mit seiner      
  35 Nothwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urtheil a priori; ist er überdem      
           
     

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