Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 079

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01

III

     
  02

Von der Eintheilung der allgemeinen Logik

     
  03

in

     
  04

Analytik und Dialektik.

     
           
  05 Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge      
  06 zu treiben vermeinte und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder      
  07 auf einer elenden Diallele mußten betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit,      
  08 mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen sollten, ist diese: Was      
  09 ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die      
  10 Übereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande sei, wird hier      
  11 geschenkt und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine      
  12 und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntniß sei.      
           
  13 Es ist schon ein großer und nöthiger Beweis der Klugheit oder Einsicht,      
  14 zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle. Denn wenn      
  15 die Frage an sich ungereimt ist und unnöthige Antworten verlangt, so hat      
  16 sie außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den      
  17 Nachtheil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten      
  18 zu verleiten und den belachenswerthen Anblick zu geben, daß einer      
  19 (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.      
           
  20 Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntniß mit ihrem      
  21 Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden      
  22 werden; denn eine Erkenntniß ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande,      
  23 worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas      
  24 enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde      
  25 ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen      
  26 Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Es ist aber      
  27 klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntniß (Beziehung      
  28 auf ihr Object) abstrahirt, und Wahrheit gerade diesen Inhalt      
  29 angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der      
  30 Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes      
  31 und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich      
  32 angegeben werden könne. Da wir oben schon den Inhalt einer      
  33 Erkenntniß die Materie derselben genannt haben, so wird man sagen      
  34 müssen: von der Wahrheit der Erkenntniß der Materie nach läßt sich kein      
  35 allgemeines Kennzeichen verlangen, weil es in sich selbst widersprechend ist.      
           
           
     

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