Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 082

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 in der Anschauung gegeben sind, worauf jene angewandt werden könne.      
  02 Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer Erkenntniß an Objecten,      
  03 und sie bleibt alsdann völlig leer. Der Theil der transscendentalen Logik      
  04 also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntniß vorträgt, und die      
  05 Principien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist      
  06 die transscendentale Analytik und zugleich eine Logik der Wahrheit. Denn      
  07 ihr kann keine Erkenntniß widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt      
  08 verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Object, mithin alle Wahrheit.      
  09 Weil es aber sehr anlockend und verleitend ist, sich dieser reinen Verstandeserkenntnisse      
  10 und Grundsätze allein und selbst über die Grenzen der Erfahrung      
  11 hinaus zu bedienen, welche doch einzig und allein uns die Materie      
  12 (Objecte) an die Hand geben kann, worauf jene reine Verstandesbegriffe      
  13 angewandt werden können: so geräth der Verstand in Gefahr, durch leere      
  14 Vernünfteleien von den bloßen formalen Principien des reinen Verstandes      
  15 einen materialen Gebrauch zu machen und über Gegenstände ohne Unterschied      
  16 zu urtheilen, die uns doch nicht gegeben sind, ja vielleicht auf keinerlei      
  17 Weise gegeben werden können. Da sie also eigentlich nur ein Kanon      
  18 der Beurtheilung des empirischen Gebrauchs sein sollte, so wird sie gemißbraucht,      
  19 wenn man sie als das Organon eines allgemeinen und unbeschränkten      
  20 Gebrauchs gelten läßt und sich mit dem reinen Verstande allein      
  21 wagt, synthetisch über Gegenstände überhaupt zu urtheilen, zu behaupten      
  22 und zu entscheiden. Also würde der Gebrauch des reinen Verstandes alsdann      
  23 dialektisch sein. Der zweite Theil der transscendentalen Logik mu      
  24 also eine Kritik dieses dialektischen Scheines sein und heißt transscendentale      
  25 Dialektik, nicht als eine Kunst, dergleichen Schein dogmatisch zu erregen      
  26 (eine leider sehr gangbare Kunst mannigfaltiger metaphysischer      
  27 Gaukelwerke), sondern als eine Kritik des Verstandes und der Vernunft      
  28 in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein      
  29 ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken und ihre Ansprüche auf Erfindung      
  30 und Erweiterung, die sie bloß durch transscendentale Grundsätze      
  31 zu erreichen vermeint, zur bloßen Beurtheilung und Verwahrung des reinen      
  32 Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen.      
           
           
     

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