Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 329

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu      
  02 glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben. So ist der      
  03 Empirismus der transscendental=idealisirenden Vernunft aller Popularität      
  04 gänzlich beraubt, und so viel Nachtheiliges wider die obersten praktischen      
  05 Grundsätze er auch enthalten mag, so ist doch gar nicht zu besorgen,      
  06 daß er die Grenzen der Schule jemals überschreiten und im gemeinen      
  07 Wesen ein nur einigermaßen beträchtliches Ansehen und einige Gunst bei      
  08 der großen Menge erwerben werde.      
           
  09 Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie      
  10 betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System und      
  11 verstattet daher auch nur solche Principien, die eine vorhabende Erkenntniß      
  12 wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen      
  13 zusammen zu stehen. Die Sätze der Antithesis sind aber von der Art,      
  14 daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich      
  15 machen. Nach ihnen giebt es über einen Zustand der Welt immer      
  16 einen noch älteren, in jedem Theile immer noch andere, wiederum theilbare,      
  17 vor jeder Begebenheit eine andere, die wiederum eben so wohl anderweitig      
  18 erzeugt war, und im Dasein überhaupt alles immer nur bedingt,      
  19 ohne irgend ein unbedingtes und erstes Dasein anzuerkennen. Da also      
  20 die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt und keinen Anfang, der schlechthin      
  21 zum Grunde des Baues dienen könnte, so ist ein vollständiges Gebäude      
  22 der Erkenntniß bei dergleichen Voraussetzungen gänzlich unmöglich.      
  23 Daher führt das architektonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische,      
  24 sondern reine Vernunfteinheit a priori fordert) eine natürliche      
  25 Empfehlung für die Behauptungen der Thesis bei sich.      
           
  26 Könnte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen und die      
  27 Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, bloß nach      
  28 dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher,      
  29 gesetzt daß er keinen Ausweg wüßte, anders aus dem Gedränge zu kommen,      
  30 als daß er sich zu einer oder andern der streitigen Lehren bekennte, in      
  31 einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein. Heute würde es ihm      
  32 überzeugend vorkommen, der menschliche Wille sei frei; morgen, wenn er      
  33 die unauflösliche Naturkette in Betrachtung zöge, würde er dafür halten,      
  34 die Freiheit sei nichts als Selbsttäuschung, und alles sei bloß Natur.      
  35 Wenn es nun aber zum Thun und Handeln käme, so würde dieses Spiel      
  36 der bloß speculativen Vernunft wie Schattenbilder eines Traums verschwinden,      
  37 und er würde seine Principien bloß nach dem praktischen Interesse      
           
     

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