Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 376

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar      
  02 sieht man die Causalität der Vernunft nicht etwa bloß wie Concurrenz,      
  03 sondern an sich selbst als vollständig an, wenn gleich die sinnlichen Triebfedern      
  04 gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären; die Handlung      
  05 wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem      
  06 Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft unerachtet      
  07 aller empirischen Bedingungen der That völlig frei, und ihrer Unterlassung      
  08 ist diese gänzlich beizumessen.      
           
  09 Man sieht diesem zurechnenden Urtheile es leicht an, daß man dabei      
  10 in Gedanken habe, die Vernunft werde durch alle jene Sinnlichkeit gar      
  11 nicht afficirt; sie verändere sich nicht (wenn gleich ihre Erscheinungen,      
  12 nämlich die Art, wie sie sich in ihren Wirkungen zeigt, sich verändern); in      
  13 ihr gehe kein Zustand vorher, der den folgenden bestimme; mithin gehöre      
  14 sie gar nicht in die Reihe der sinnlichen Bedingungen, welche die Erscheinungen      
  15 nach Naturgesetzen nothwendig machen. Sie, die Vernunft, ist      
  16 allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und      
  17 einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit und geräth etwa in einen neuen      
  18 Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar      
  19 in Ansehung desselben. Daher kann man nicht fragen: warum      
  20 hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? sondern nur: warum hat      
  21 sie die Erscheinungen durch ihre Causalität nicht anders bestimmt?      
  22 Darauf aber ist keine Antwort möglich. Denn ein anderer intelligibeler      
  23 Charakter würde einen andern empirischen gegeben haben; und wenn wir      
  24 sagen, daß unerachtet seines ganzen bis dahin geführten Lebenswandels      
  25 der Thäter die Lüge doch hätte unterlassen können, so bedeutet dieses nur,      
  26 daß sie unmittelbar unter der Macht der Vernunft stehe, und die Vernunft      
  27 in ihrer Causalität keinen Bedingungen der Erscheinung und des Zeitlaufs      
  28 unterworfen ist, der Unterschied der Zeit auch zwar einen Hauptunterschied      
  29 der Erscheinungen respective gegen einander, da diese aber      
  30 keine Sachen, mithin auch nicht Ursachen an sich selbst sind, keinen Unterschied      
  31 der Handlung in Beziehung auf die Vernunft machen könne.      
           
  32 Wir können also mit der Beurtheilung freier Handlungen in Ansehung      
  33 ihrer Causalität nur bis an die intelligibele Ursache, aber nicht über      
  34 dieselbe hinaus kommen; wir können erkennen, daß sie frei, d. i. von der      
  35 Sinnlichkeit unabhängig bestimmt, und auf solche Art die sinnlich unbedingte      
  36 Bedingung der Erscheinungen sein könne. Warum aber der intelligibele      
  37 Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter      
           
     

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