Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 384

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 reinen Anschauung desselben, das Vollkommenste einer jeden Art möglicher      
  02 Wesen und der Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung.      
           
  03 Ohne uns aber so weit zu versteigen, müssen wir gestehen, daß die      
  04 menschliche Vernunft nicht allein Ideen, sondern auch Ideale enthalte, die      
  05 zwar nicht wie die Platonischen schöpferische, aber doch praktische Kraft      
  06 (als regulative Principien) haben und der Möglichkeit der Vollkommenheit      
  07 gewisser Handlungen zum Grunde liegen. Moralische Begriffe sind      
  08 nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust      
  09 oder Unlust) zum Grunde liegt. Gleichwohl können sie in Ansehung des      
  10 Princips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken      
  11 setzt, (also wenn man bloß auf ihre Form Acht hat) gar wohl zum Beispiele      
  12 reiner Vernunftbegriffe dienen. Tugend und mit ihr menschliche      
  13 Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit sind Ideen. Aber der Weise (des      
  14 Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt,      
  15 der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruirt. So wie die Idee die      
  16 Regel giebt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen      
  17 Bestimmung des Nachbildes; und wir haben kein anderes Richtmaß      
  18 unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen      
  19 in uns, womit wir uns vergleichen, beurtheilen und dadurch uns bessern,      
  20 obgleich es niemals erreichen können. Diese Ideale, ob man ihnen gleich      
  21 nicht objective Realität (Existenz) zugestehen möchte, sind doch um deswillen      
  22 nicht für Hirngespinnste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches      
  23 Richtmaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was in seiner      
  24 Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel      
  25 des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen. Das Ideal aber in einem      
  26 Beispiele, d. i. in der Erscheinung, realisiren wollen, wie etwa den Weisen      
  27 in einem Roman, ist unthunlich und hat überdem etwas Widersinnisches      
  28 und wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche      
  29 der Vollständigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illusion      
  30 in solchem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee      
  31 liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen.      
           
  32 So ist es mit dem Ideale der Vernunft bewandt, welches jederzeit      
  33 auf bestimmten Begriffen beruhen und zur Regel und Urbilde, es sei der      
  34 Befolgung oder Beurtheilung, dienen muß. Ganz anders verhält es sich      
  35 mit den Geschöpfen der Einbildungskraft, darüber sich niemand erklären      
  36 und einen verständlichen Begriff geben kann, gleichsam Monogrammen,      
  37 die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Regel bestimmte Züge      
           
     

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