Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 441

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Mannigfaltigkeit (nach dem Princip der Specification), bei jenem      
  02 aber das Interesse der Einheit (nach dem Princip der Aggregation).      
  03 Ein jeder derselben glaubt sein Urtheil aus der Einsicht des Objects zu      
  04 haben und gründet es doch lediglich auf der größeren oder kleineren Anhänglichkeit      
  05 an einen von beiden Grundsätzen, deren keine auf objectiven      
  06 Gründen beruht, sondern nur auf dem Vernunftinteresse, und die daher      
  07 besser Maximen als Principien genannt werden könnten. Wenn ich einsehende      
  08 Männer mit einander wegen der Charakteristik der Menschen, der      
  09 Thiere oder Pflanzen, ja selbst der Körper des Mineralreichs im Streite      
  10 sehe, da die einen z. B. besondere und in der Abstammung gegründete      
  11 Volkscharaktere, oder auch entschiedene und erbliche Unterschiede der Familien,      
  12 Racen u. s. w. annehmen, andere dagegen ihren Sinn darauf      
  13 setzen, daß die Natur in diesem Stücke ganz und gar einerlei Anlagen gemacht      
  14 habe, und aller Unterschied nur auf äußeren Zufälligkeiten beruhe:      
  15 so darf ich nur die Beschaffenheit des Gegenstandes in Betrachtung ziehen,      
  16 um zu begreifen, daß er für beide viel zu tief verborgen liege, als daß sie      
  17 aus Einsicht in die Natur des Objects sprechen könnten. Es ist nichts      
  18 anderes als das zwiefache Interesse der Vernunft, davon dieser Theil das      
  19 eine, jener das andere zu Herzen nimmt oder auch affectirt, mithin die      
  20 Verschiedenheit der Maximen der Naturmannigfaltigkeit oder der Natureinheit,      
  21 welche sich gar wohl vereinigen lassen, aber, solange sie für objective      
  22 Einsichten gehalten werden, nicht allein Streit, sondern auch Hindernisse      
  23 veranlassen, welche die Wahrheit lange aufhalten, bis ein Mittel      
  24 gefunden wird, das streitige Interesse zu vereinigen und die Vernunft      
  25 hierüber zufrieden zu stellen.      
           
  26 Eben so ist es mit der Behauptung oder Anfechtung des so berufenen,      
  27 von Leibniz in Gang gebrachten und durch Bonnet trefflich aufgestutzten      
  28 Gesetzes der continuirlichen Stufenleiter der Geschöpfe bewandt,      
  29 welche nichts als eine Befolgung des auf dem Interesse der Vernunft beruhenden      
  30 Grundsatzes der Affinität ist; denn Beobachtung und Einsicht      
  31 in die Einrichtung der Natur konnte es gar nicht als objective Behauptung      
  32 an die Hand geben. Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie sie      
  33 uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit aus einander, und unsere      
  34 vermeintlich kleine Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur selbst      
  35 so weite Klüfte, daß auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer      
  36 großen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muß, gewisse      
  37 Ähnlichkeiten und Annäherungen zu finden) als Absichten der Natur      
           
     

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