Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 485

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 in unserem Besitz, wenn wir einen, obzwar nicht hinreichenden Titel derselben      
  02 vor uns haben, und es völlig gewiß ist, daß niemand die Unrechtmäßigkeit      
  03 dieses Besitzes jemals beweisen könne.      
           
  04 Es ist etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes, daß es überhaupt      
  05 eine Antithetik der reinen Vernunft geben und diese, die doch den obersten      
  06 Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit gerathen      
  07 soll. Zwar hatten wir oben eine solche scheinbare Antithetik derselben      
  08 vor uns; aber es zeigte sich, daß sie auf einem Mißverstande beruhte,      
  09 da man nämlich dem gemeinen Vorurtheile gemäß Erscheinungen      
  10 für Sachen an sich selbst nahm und dann eine absolute Vollständigkeit      
  11 ihrer Synthesis auf eine oder andere Art (die aber auf beiderlei Art gleich      
  12 unmöglich war) verlangte, welches aber von Erscheinungen gar nicht erwartet      
  13 werden kann. Es war also damals kein wirklicher Widerspruch      
  14 der Vernunft mit ihr selbst bei den Sätzen: die Reihe an sich gegebener      
  15 Erscheinungen hat einen absolut ersten Anfang, und: diese Reihe      
  16 ist schlechthin und an sich selbst ohne allen Anfang; denn beide Sätze      
  17 bestehen gar wohl zusammen, weil Erscheinungen nach ihrem Dasein      
  18 (als Erscheinungen) an sich selbst gar nichts, d. i. etwas Widersprechendes,      
  19 sind, und also deren Voraussetzung natürlicher Weise widersprechende      
  20 Folgerungen nach sich ziehen muß.      
           
  21 Ein solcher Mißverstand kann aber nicht vorgewandt und dadurch      
  22 der Streit der Vernunft beigelegt werden, wenn etwa theistisch behauptet      
  23 würde: es ist ein höchstes Wesen, und dagegen atheistisch: es ist      
  24 kein höchstes Wesen; oder in der Psychologie: alles, was denkt, ist      
  25 von absoluter beharrlicher Einheit und also von aller vergänglichen materiellen      
  26 Einheit unterschieden, welchem ein anderer entgegensetzte: die Seele      
  27 ist nicht immaterielle Einheit und kann von der Vergänglichkeit nicht ausgenommen      
  28 werden. Denn der Gegenstand der Frage ist hier von allem      
  29 Fremdartigen, das seiner Natur widerspricht, frei, und der Verstand hat      
  30 es nur mit Sachen an sich selbst und nicht mit Erscheinungen zu thun.      
  31 Es würde also hier freilich ein wahrer Widerstreit anzutreffen sein, wenn      
  32 nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte,      
  33 was dem Grunde einer Behauptung nahe käme; denn was die Kritik der      
  34 Beweisgründe des dogmatisch Bejahenden betrifft, die kann man ihm sehr      
  35 wohl einräumen, ohne darum diese Sätze aufzugeben, die doch wenigstens      
           
     

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