Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 537

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc.,      
  02 sondern: ich bin moralisch gewiß etc. Das heißt: der Glaube an einen      
  03 Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt,      
  04 daß, so wenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, eben so wenig      
  05 besorge ich, daß mir der erste jemals entrissen werden könne.      
           
  06 Das einzige Bedenkliche, das sich hiebei findet, ist, daß sich dieser      
  07 Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet.      
  08 Gehn wir davon ab und nehmen einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze      
  09 gänzlich gleichgültig wäre, so wird die Frage, welche die Vernunft aufwirft,      
  10 bloß eine Aufgabe für die Speculation und kann alsdann zwar      
  11 noch mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen      
  12 sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müßte, unterstützt werden*).      
  13 Es ist aber kein Mensch bei diesen Fragen frei von allem Interesse. Denn      
  14 ob er gleich von dem moralischen durch den Mangel guter Gesinnungen      
  15 getrennt sein möchte: so bleibt doch auch in diesem Falle genug übrig,      
  16 um zu machen, daß er ein göttliches Dasein und eine Zukunft fürchte.      
  17 Denn hiezu wird nichts mehr erfordert, als daß er wenigstens keine      
  18 Gewißheit vorschützen könne, daß kein solches Wesen und kein künftig      
  19 Leben anzutreffen sei, wozu, weil es durch bloße Vernunft, mithin apodiktisch      
  20 bewiesen werden müßte, er die Unmöglichkeit von beiden darzuthun      
  21 haben würde, welches gewiß kein vernünftiger Mensch übernehmen kann.      
  22 Das würde ein negativer Glaube sein, der zwar nicht Moralität und      
  23 gute Gesinnungen, aber doch das Analogon derselben bewirken, nämlich      
  24 den Ausbruch der bösen mächtig zurückhalten könnte.      
           
  25 Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet,      
  26 indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet?      
  27 nichts mehr als zwei Glaubensartikel? So viel hätte auch wohl der gemeine      
           
    *) Das menschliche Gemüth nimmt (so wie ich glaube, daß es bei jedem vernünftigen Wesen nothwendig geschieht) ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungetheilt und praktisch überwiegend ist. Befestigt und vergrößert dieses Interesse, und ihr werdet die Vernunft sehr gelehrig und selbst aufgeklärter finden, um mit dem praktischen auch das speculative Interesse zu vereinigen. Sorget ihr aber nicht dafür, daß ihr vorher wenigstens auf dem halben Wege gute Menschen macht, so werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtig gläubige Menschen machen.      
           
     

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