Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 070

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Stande, denn sie liegt ganz und gar nicht auf diesem Wege, weil in Ansehung      
  02 ihres künftigen Gebrauchs, der von der Erfahrung gänzlich unabhängig      
  03 sein soll, sie einen ganz andern Geburtsbrief als den der Abstammung      
  04 von Erfahrungen müssen aufzuzeigen haben. Diese versuchte physiologische      
  05 Ableitung, die eigentlich gar nicht Deduction heißen kann, weil sie eine      
  06 quaestio facti betrifft, will ich daher die Erklärung des Besitzes einer      
  07 reinen Erkenntniß nennen. Es ist also klar, daß von diesen allein es eine      
  08 transscendentale Deduction und keineswegs eine empirische geben könne,      
  09 und daß letztere in Ansehung der reinen Begriffe a priori nichts als eitele      
  10 Versuche sind, womit sich nur derjenige beschäftigen kann, welcher die ganz      
  11 eigenthümliche Natur dieser Erkenntnisse nicht begriffen hat.      
           
  12 Ob nun aber gleich die einzige Art einer möglichen Deduction der      
  13 reinen Erkenntniß a priori, nämlich die auf dem transscendentalen Wege,      
  14 eingeräumt wird, so erhellt dadurch doch eben nicht, daß sie so unumgänglich      
  15 nothwendig sei. Wir haben oben die Begriffe des Raumes und der      
  16 Zeit vermittelst einer transscendentalen Deduction zu ihren Quellen verfolgt      
  17 und ihre objective Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt. Gleichwohl      
  18 geht die Geometrie ihren sichern Schritt durch lauter Erkenntnisse      
  19 a priori, ohne daß sie sich wegen der reinen und gesetzmäßigen Abkunft      
  20 ihres Grundbegriffs vom Raume von der Philosophie einen Beglaubigungsschein      
  21 erbitten darf. Allein der Gebrauch dieses Begriffs geht in dieser      
  22 Wissenschaft auch nur auf die äußere Sinnenwelt, von welcher der Raum      
  23 die reine Form ihrer Anschauung ist, in welcher also alle geometrische Erkenntniß,      
  24 weil sie sich auf Anschauung a priori gründet, unmittelbare      
  25 Evidenz hat, und die Gegenstände durch die Erkenntniß selbst a priori      
  26 (der Form nach) in der Anschauung gegeben werden. Dagegen fängt mit      
  27 den reinen Verstandesbegriffen das unumgängliche Bedürfniß an,      
  28 nicht allein von ihnen selbst, sondern auch vom Raum die transscendentale      
  29 Deduction zu suchen: weil, da sie von Gegenständen nicht durch Prädicate      
  30 der Anschauung und der Sinnlichkeit, sondern des reinen Denkens a priori      
  31 reden, sie sich auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit      
  32 allgemein beziehen, und die, da sie nicht auf Erfahrung gegründet sind,      
  33 auch in der Anschauung a priori kein Object vorzeigen können, worauf sie      
  34 vor aller Erfahrung ihre Synthesis gründeten; und daher nicht allein      
  35 wegen der objectiven Gültigkeit und Schranken ihres Gebrauchs Verdacht      
  36 erregen, sondern auch jenen Begriff des Raumes zweideutig machen,      
  37 dadurch daß sie ihn über die Bedingungen der sinnlichen Anschauung zu      
           
     

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