Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 229

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 desselben beizubehalten, obzwar ihm immer noch das gleichlautende Ich      
  02 zuzutheilen, welches in jedem andern Zustande, selbst der Umwandelung      
  03 des Subjects, doch immer den Gedanken des vorhergehenden Subjects      
  04 aufbehalten und so auch dem folgenden überliefern könnte.*)      
           
  05 Wenn gleich der Satz einiger alten Schulen, daß alles fließend      
  06 und nichts in der Welt beharrlich und bleibend sei, nicht statt finden      
  07 kann, sobald man Substanzen annimmt, so ist er doch nicht durch die Einheit      
  08 des Selbstbewußtseins widerlegt. Denn wir selbst können aus unserem      
  09 Bewußtsein darüber nicht urtheilen, ob wir als Seele beharrlich sind, oder      
  10 nicht, weil wir zu unserem identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen      
  11 wir uns bewußt sind, und so allerdings nothwendig urtheilen müssen, daß      
  12 wir in der ganzen Zeit, deren wir uns bewußt sind, eben dieselbe sind.      
  13 In dem Standpunkte eines Fremden aber können wir dieses darum noch      
  14 nicht für gültig erklären, weil, da wir an der Seele keine beharrliche Erscheinung      
  15 antreffen als nur die Vorstellung Ich, welche sie alle begleitet      
  16 und verknüpft, so können wir niemals ausmachen, ob dieses Ich (ein bloßer      
  17 Gedanke) nicht eben sowohl fließe als die übrige Gedanken, die dadurch      
  18 an einander gekettet werden.      
           
  19 Es ist aber merkwürdig, daß die Persönlichkeit und deren Voraussetzung,      
  20 die Beharrlichkeit, mithin die Substanzialität der Seele jetzt allererst      
  21 bewiesen werden muß. Denn könnten wir diese voraussetzen, so würde      
  22 zwar daraus noch nicht die Fortdauer des Bewußtseins, aber doch die      
  23 Möglichkeit eines fortwährenden Bewußtseins in einem bleibenden Subject      
  24 folgen, welches zu der Persönlichkeit schon hinreichend ist, die dadurch,      
  25 daß ihre Wirkung etwa eine Zeit hindurch unterbrochen wird, selbst nicht      
  26 sofort aufhört. Aber diese Beharrlichkeit ist uns vor der numerischen Identität      
           
    *) Eine elastische Kugel, die auf eine gleiche in gerader Richtung stößt, theilt dieser ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen Zustand (wenn man blos auf die Stellen im Raume sieht) mit. Nehmet nun nach der Analogie mit dergleichen Körpern Substanzen an, deren die eine der andern Vorstellungen sammt deren Bewußtsein einflößte, so wird sich eine ganze Reihe derselben denken lassen, deren die erste ihren Zustand sammt dessen Bewußtsein der zweiten, diese ihren eigenen Zustand sammt dem der vorigen Substanz der dritten und diese eben so die Zustände aller vorigen sammt ihrem eigenen und deren Bewußtsein mittheilte. Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusammt dem Bewußtsein in sie übertragen worden, und dem unerachtet würde sie doch nicht eben dieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein.      
           
     

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