Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 320

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere      
  02 Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen,      
  03 welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen,      
  04 blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einer Erfahrung      
  05 enthalten, unterscheiden; und in Ansehung der letztern ist Natur und      
  06 mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei; und da in dieser die Gesetzmäßigkeit      
  07 auf der nothwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer      
  08 Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt      
  09 erkennen können), mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes      
  10 beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts desto      
  11 weniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letztern sage: der Verstand      
  12 schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern      
  13 schreibt sie dieser vor.      
           
  14
§ 37.
     
           
  15 Wir wollen diesen dem Anscheine nach gewagten Satz durch ein Beispiel      
  16 erläutern, welches zeigen soll: daß Gesetze, die wir an Gegenständen      
  17 der sinnlichen Anschauung entdecken, vornehmlich wenn sie als nothwendig      
  18 erkannt worden, von uns selbst schon für solche gehalten werden, die der      
  19 Verstand hinein gelegt, ob sie gleich den Naturgesetzen, die wir der Erfahrung      
  20 zuschreiben, sonst in allen Stücken ähnlich sind.      
           
  21
§ 38.
     
           
  22 Wenn man die Eigenschaften des Cirkels betrachtet, dadurch diese      
  23 Figur so manche willkürliche Bestimmungen des Raums in ihr sofort in      
  24 einer allgemeinen Regel vereinigt, so kann man nicht umhin, diesem geometrischen      
  25 Dinge eine Natur beizulegen. So Theilen sich nämlich zwei      
  26 Linien, die sich einander und zugleich den Cirkel schneiden, nach welchem      
  27 ungefähr sie auch gezogen werden, doch jederzeit so regelmäßig, daß das      
  28 Rectangel aus den Stücken einer jeden Linie dem der andern gleich ist.      
  29 Nun Frage ich: "Liegt dieses Gesetz im Cirkel, oder liegt es im Verstande?"      
  30 d. i. enthält diese Figur unabhängig vom Verstande den Grund dieses Gesetzes      
  31 in sich, oder legt der Verstand, indem er nach seinen Begriffen (nämlich      
  32 der Gleichheit der Halbmesser) die Figur selbst construirt hat, zugleich      
  33 das Gesetz der einander in geometrischer Proportion schneidenden Sehnen      
  34 in dieselbe hinein? Man wird bald gewahr, wenn man den Beweisen      
           
     

[ Seite 319 ] [ Seite 321 ] [ Inhaltsverzeichnis ]