Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 327

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01

Der transscendentalen Hauptfrage

     
  02

Dritter Theil.

     
  03

Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?

     
           
  04
§ 40.
     
           
  05 Reine Mathematik und reine Naturwissenschaft hätten zum Behuf      
  06 ihrer eigenen Sicherheit und Gewißheit keiner dergleichen Deduction      
  07 bedurft, als wir bisher von beiden zu Stande gebracht haben; denn die      
  08 erstere stützt sich auf ihre eigene Evidenz, die zweite aber, obgleich aus      
  09 reinen Quellen des Verstandes Entsprungen, dennoch auf Erfahrung und      
  10 deren durchgängige Bestätigung; welcher letztern Zeugniß sie darum nicht      
  11 gänzlich ausschlagen und entbehren kann, weil sie mit aller ihrer Gewißheit      
  12 dennoch, als Philosophie, es der Mathematik niemals gleich thun      
  13 kann. Beide Wissenschaften hatten also die gedachte Untersuchung nicht      
  14 für sich, sondern für eine andere Wissenschaft, nämlich Metaphysik, nöthig.      
           
  15 Metaphysik hat es außer mit Naturbegriffen, die in der Erfahrung      
  16 jederzeit ihre Anwendung finden, noch mit reinen Vernunftbegriffen zu      
  17 thun, die niemals in irgend einer nur immer möglichen Erfahrung gegeben      
  18 werden, mithin mit Begriffen, deren objective Realität (daß sie nicht      
  19 bloße Hirngespinste sind), und mit Behauptungen, deren Wahrheit oder      
  20 Falschheit durch keine Erfahrung bestätigt oder aufgedeckt werden kann;      
  21 und dieser Theil der Metaphysik ist überdem gerade derjenige, welcher den      
  22 wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht,      
  23 und so bedarf diese Wissenschaft einer solchen Deduction um ihrer selbst      
  24 willen. Die uns jetzt vorgelegte dritte Frage betrifft also gleichsam den      
  25 Kern und das Eigenthümliche der Metaphysik, nämlich die Beschäftigung      
  26 der Vernunft blos mit sich selbst und, indem sie über ihre eigene Begriffe      
  27 brütet, die unmittelbar daraus vermeintlich entspringende Bekanntschaft      
  28 mit Objecten, ohne dazu der Vermittelung der Erfahrung nöthig zu      
  29 haben, noch überhaupt durch dieselbe dazu gelangen zu können*).      
  30 Ohne Auflösung dieser Frage thut sich Vernunft niemals selbst gnug.      
  31 Der Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand      
           
    *) Wenn man sagen kann, daß eine Wissenschaft wenigstens in der Idee aller Menschen wirklich sei, so bald es ausgemacht ist, daß die Aufgaben, die darauf führen, durch die Natur der menschlichen Vernunft jedermann vorgelegt und [Seitenumbruch] daher auch jederzeit darüber viele, obgleich fehlerhafte Versuche unvermeidlich sind, so wird man auch sagen müssen: Metaphysik sei subjective (und zwar nothwendiger Weise) wirklich, und da fragen wir also mit Recht, wie sie (objective) möglich sei.      
           
     

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