Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 331

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 44.
     
           
  02 Es ist bei dieser Betrachtung im allgemeinen noch merkwürdig, daß      
  03 die Vernunftideen nicht etwa so wie die Kategorien uns zum Gebrauche      
  04 des Verstandes in Ansehung der Erfahrung irgend etwas nutzen, sondern      
  05 in Ansehung desselben völlig entbehrlich, ja wohl gar den Maximen des      
  06 Vernunfterkenntnisses der Natur entgegen und hinderlich, gleichwohl aber      
  07 doch in anderer, noch zu bestimmender Absicht nothwendig sind. Ob die      
  08 Seele eine einfache Substanz sei, oder nicht, das kann uns zur Erklärung      
  09 der Erscheinungen derselben ganz gleichgültig sein; denn wir können den      
  10 Begriff eines einfachen Wesens durch keine mögliche Erfahrung sinnlich,      
  11 mithin in concreto verständlich machen; und so ist er in Ansehung aller      
  12 verhofften Einsicht in die Ursache der Erscheinungen ganz leer und kann      
  13 zu keinem Princip der Erklärung dessen, was innere oder äußere Erfahrung      
  14 an die Hand giebt, dienen. Eben so wenig können uns die kosmologischen      
  15 Ideen vom Weltanfange oder der Weltewigkeit ( a parte ante ) dazu      
  16 nutzen, um irgend eine Begebenheit in der Welt selbst daraus zu erklären.      
  17 Endlich müssen wir nach einer richtigen Maxime der Naturphilosophie      
  18 uns aller Erklärung der Natureinrichtung, die aus dem Willen eines      
  19 höchsten Wesens gezogen worden, enthalten, weil dieses nicht mehr Naturphilosophie      
  20 ist, sondern ein Geständniß, daß es damit bei uns zu Ende      
  21 gehe. Es haben also diese Ideen eine ganz andere Bestimmung ihres      
  22 Gebrauchs als jene Kategorien, durch die und die darauf gebauten Grundsätze      
  23 Erfahrung selbst allererst möglich ward. Indessen würde doch unsre      
  24 mühsame Analytik des Verstandes, wenn unsre Absicht auf nichts anders      
  25 als bloße Naturerkenntniß, so wie sie in der Erfahrung gegeben werden      
  26 kann, gerichtet wäre, auch ganz überflüssig sein; denn Vernunft verrichtet      
  27 ihr Geschäfte sowohl in der Mathematik als Naturwissenschaft auch ohne      
  28 alle diese subtile Deduction ganz sicher und gut: also vereinigt sich unsre      
  29 Kritik des Verstandes mit den Ideen der reinen Vernunft zu einer Absicht,      
  30 welche über den Erfahrungsgebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist, von      
  31 welchem wir doch oben gesagt haben, daß er in diesem Betracht gänzlich      
  32 unmöglich und ohne Gegenstand oder Bedeutung sei. Es muß aber dennoch      
  33 zwischen dem, was zur Natur der Vernunft und des Verstandes gehört,      
  34 Einstimmung sein, und jene muß zur Vollkommenheit der letztern      
  35 beitragen und kann sie unmöglich verwirren.      
           
  36 Die Auflösung dieser Frage ist folgende: die reine Vernunft hat      
  37 unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über das Feld der      
           
     

[ Seite 330 ] [ Seite 332 ] [ Inhaltsverzeichnis ]