Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 122

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
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IV

     
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Die Unsterblichkeit der Seele,

     
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als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft.

     
           
  04 Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige      
  05 Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens. In diesem      
  06 aber ist die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen      
  07 Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts. Sie muß also eben sowohl      
  08 möglich sein als ihr Object, weil sie in demselben Gebote dieses zu      
  09 befördern enthalten ist. Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum      
  10 moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges      
  11 Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins      
  12 fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch nothwendig gefordert      
  13 wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus      
  14 zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Principien      
  15 der reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische      
  16 Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen.      
           
  17 Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer      
  18 ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben      
  19 vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt)      
  20 möglich. Also ist das höchste Gut praktisch nur unter der Voraussetzung      
  21 der Unsterblichkeit der Seele möglich, mithin diese, als unzertrennlich mit      
  22 dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen      
  23 Vernunft (worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen      
  24 Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden      
  25 praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt).      
           
  26 Der Satz von der moralischen Bestimmung unserer Natur, nur allein      
  27 in einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen Angemessenheit      
  28 mit dem Sittengesetze gelangen zu können, ist von dem größten Nutzen,      
  29 nicht blos in Rücksicht auf die gegenwärtige Ergänzung des Unvermögens      
  30 der speculativen Vernunft, sondern auch in Ansehung der Religion. In Ermangelung      
  31 desselben wird entweder das moralische Gesetz von seiner Heiligkeit      
  32 gänzlich abgewürdigt, indem man es sich als nachsichtlich (indulgent)      
  33 und so unserer Behaglichkeit angemessen verkünstelt, oder auch seinen      
  34 Beruf und zugleich Erwartung zu einer unerreichbaren Bestimmung, nämlich      
  35 einem verhofften völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens, spannt      
           
     

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