Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 232

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Völker in Ansehung dieses Gefühls in der Vorstellung gewisser Gegenstände:      
  02 ist das empirische, wiewohl schwache und kaum zur Vermuthung      
  03 zureichende Kriterium der Abstammung eines so durch Beispiele bewährten      
  04 Geschmacks von dem tief verborgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen      
  05 Grunde der Einhelligkeit in Beurtheilung der Formen, unter denen ihnen      
  06 Gegenstände gegeben werden.      
           
  07 Daher sieht man einige Producte des Geschmacks als exemplarisch      
  08 an: nicht als ob Geschmack könne erworben werden, indem er anderen      
  09 nachahmt. Denn der Geschmack muß ein selbst eigenes Vermögen sein;      
  10 wer aber ein Muster nachahmt, zeigt, sofern als er es trifft, zwar Geschicklichkeit,      
  11 aber nur Geschmack, sofern er dieses Muster selbst beurtheilen      
  12 kann*). Hieraus folgt aber, daß das höchste Muster, das Urbild des Geschmacks,      
  13 eine bloße Idee sei, die jeder in sich selbst hervorbringen muß,      
  14 und wonach er alles, was Object des Geschmacks, was Beispiel der Beurtheilung      
  15 durch Geschmack sei, und selbst den Geschmack von jedermann beurtheilen      
  16 muß. Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff und Ideal      
  17 die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens. Daher      
  18 kann jenes Urbild des Geschmacks, welches freilich auf der unbestimmten      
  19 Idee der Vernunft von einem Maximum beruht, aber doch nicht durch Begriffe,      
  20 sondern nur in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden, besser      
  21 das Ideal des Schönen genannt werden, dergleichen wir, wenn wir      
  22 gleich nicht im Besitze desselben sind, doch in uns hervorzubringen streben.      
  23 Es wird aber bloß ein Ideal der Einbildungskraft sein, eben darum weil      
  24 es nicht auf Begriffen, sondern auf der Darstellung beruht; das Vermögen      
  25 der Darstellung aber ist die Einbildungskraft. - Wie gelangen wir nun      
  26 zu einem solchen Ideale der Schönheit? A priori oder empirisch? Imgleichen:      
  27 welche Gattung des Schönen ist eines Ideals fähig?      
           
  28 Zuerst ist wohl zu bemerken, daß die Schönheit, zu welcher ein Ideal      
  29 gesucht werden soll, keine vage, sondern durch einen Begriff von objectiver      
  30 Zweckmäßigkeit fixirte Schönheit sein, folglich keinem Objecte eines ganz      
  31 reinen, sondern dem eines zum Theil intellectuirten Geschmacksurtheils      
           
    *)Muster des Geschmacks in Ansehung der redenden Künste müssen in einer todten und gelehrten Sprache abgefaßt sein: das erste, um nicht die Veränderung erdulden zu müssen, welche die lebenden unvermeidlicher Weise trifft, daß edle Ausdrücke platt, gewöhnliche veraltet und neugeschaffene in einen nur kurz daurenden Umlauf gebracht werden; das zweite, damit sie eine Grammatik habe, welche keinem muthwilligen Wechsel der Mode unterworfen sei, sondern ihre unveränderliche Regel hat.      
           
     

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