Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 256

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 den Gegenstand, als vielmehr die Gemüthsstimmung in Schätzung      
  02 desselben als erhaben beurtheilen läßt.      
  03 Also, gleichwie die ästhetische Urtheilskraft in Beurtheilung des Schönen      
  04 die Einbildungskraft in ihrem freien Spiele auf den Verstand bezieht,      
  05 um mit dessen Begriffen überhaupt (ohne Bestimmung derselben) zusammenzustimmen:      
  06 so bezieht sie dasselbe Vermögen in Beurtheilung eines      
  07 Dinges als erhabenen auf die Vernunft, um zu deren Ideen (unbestimmt      
  08 welchen) subjectiv übereinzustimmen, d. i. eine Gemüthsstimmung      
  09 hervorzubringen, welche derjenigen gemäß und mit ihr verträglich ist, die      
  10 der Einfluß bestimmter Ideen (praktischer) auf das Gefühl bewirken      
  11 würde.      
           
  12 Man sieht hieraus auch, daß die wahre Erhabenheit nur im Gemüthe      
  13 des Urtheilenden, nicht in dem Naturobjecte, dessen Beurtheilung      
  14 diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden. Wer wollte      
  15 auch ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung über einander gethürmt,      
  16 mit ihren Eispyramiden, oder die düstere tobende See u. s. w.      
  17 erhaben nennen? Aber das Gemüth fühlt sich in seiner eigenen Beurtheilung      
  18 gehoben, wenn es, indem es sich in der Betrachtung derselben      
  19 ohne Rücksicht auf ihre Form der Einbildungskraft und einer, obschon      
  20 ganz ohne bestimmten Zweck damit in Verbindung gesetzten, jene bloß      
  21 erweiternden Vernunft überläßt, die ganze Macht der Einbildungskraft      
  22 dennoch ihren Ideen unangemessen findet.      
           
  23 Beispiele vom Mathematisch=Erhabenen der Natur in der bloßen      
  24 Anschauung liefern uns alle die Fälle, wo uns nicht sowohl ein größerer      
  25 Zahlbegriff, als vielmehr große Einheit als Maß (zu Verkürzung der      
  26 Zahlreihen) für die Einbildungskraft gegeben wird. Ein Baum, den wir      
  27 nach Mannshöhe schätzen, giebt allenfalls einen Maßstab für einen Berg;      
  28 und wenn dieser etwa eine Meile hoch wäre, kann er zur Einheit für die      
  29 Zahl, welche den Erddurchmesser ausdrückt, dienen, um den letzteren anschaulich      
  30 zu machen, der Erddurchmesser für das uns bekannte Planetensystem,      
  31 dieses für das der Milchstraße; und die unermeßliche Menge solcher      
  32 Milchstraßensysteme unter dem Namen der Nebelsterne, welche vermuthlich      
  33 wiederum ein dergleichen System unter sich ausmachen, lassen uns      
  34 hier keine Gränzen erwarten. Nun liegt das Erhabene bei der ästhetischen      
  35 Beurtheilung eines so unermeßlichen Ganzen nicht sowohl in der      
  36 Größe der Zahl, als darin, daß wir im Fortschritte immer auf desto größere      
  37 Einheiten gelangen; wozu die systematische Abtheilung des Weltgebäudes      
           
     

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