Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 258

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nun ist die größte Bestrebung der Einbildungskraft in Darstellung der      
  02 Einheit für die Größenschätzung eine Beziehung auf etwas Absolut      
  03 Großes,folglich auch eine Beziehung auf das Gesetz der Vernunft, dieses      
  04 allein zum obersten Maße der Größen anzunehmen. Also ist die innere      
  05 Wahrnehmung der Unangemessenheit alles sinnlichen Maßstabes zur Größenschätzung      
  06 der Vernunft eine Übereinstimmung mit Gesetzen derselben      
  07 und eine Unlust, welche das Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung      
  08 in uns rege macht, nach welcher es zweckmäßig ist, mithin Lust ist, jeden      
  09 Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft unangemessen zu finden.      
           
  10 Das Gemüth fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der      
  11 Natur bewegt: da es in dem ästhetischen Urtheile über das Schöne derselben      
  12 in ruhiger Contemplation ist. Diese Bewegung kann (vornehmlich      
  13 in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden, d. i.      
  14 mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objects.      
  15 Das Überschwengliche für die Einbildungskraft (bis zu welchem sie      
  16 in der Auffassung der Anschauung getrieben wird) ist gleichsam ein Abgrund,      
  17 worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet; aber doch auch für die      
  18 Idee der Vernunft vom Übersinnlichen nicht überschwenglich, sondern gesetzmäßig,      
  19 eine solche Bestrebung der Einbildungskraft hervorzubringen:      
  20 mithin in eben dem Maße wiederum anziehend, als es für die bloße      
  21 Sinnlichkeit abstoßend war. Das Urtheil selber bleibt aber hiebei immer      
  22 nur ästhetisch, weil es, ohne einen bestimmten Begriff vom Objecte zum      
  23 Grunde zu haben, bloß das subjective Spiel der Gemüthskräfte (Einbildungskraft      
  24 und Vernunft) selbst durch ihren Contrast als harmonisch vorstellt.      
  25 Denn so wie Einbildungskraft und Verstand in der Beurtheilung      
  26 des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Einbildungskraft und      
  27 Vernunft hier durch ihren Widerstreit subjective Zweckmäßigkeit der      
  28 Gemüthskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine, selbstständige      
  29 Vernunft haben, oder ein Vermögen der Größenschätzung, dessen Vorzüglichkeit      
  30 durch nichts anschaulich gemacht werden kann, als durch die Unzulänglichkeit      
  31 desjenigen Vermögens, welches in Darstellung der Größen      
  32 (sinnlicher Gegenstände) selbst unbegränzt ist.      
           
  33 Messung eines Raums (als Auffassung) ist zugleich Beschreibung      
  34 desselben, mithin objective Bewegung in der Einbildung und ein Progressus;      
  35 die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens,      
  36 sondern der Anschauung, mithin des Successiv=Aufgefaßten in      
  37 einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im      
           
     

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