Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 261

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Fall denkt. Aber auf jeden solchen Fall, den er als an sich nicht      
  02 unmöglich denkt, erkennt er ihn als furchtbar.      
           
  03 Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen,      
  04 so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen      
  05 ist, über das Schöne. Jener flieht den Anblick eines Gegenstandes,      
  06 der ihm Scheu einjagt; und es ist unmöglich, an einem Schrecken, der      
  07 ernstlich gemeint wäre, Wohlgefallen zu finden. Daher ist die Annehmlichkeit      
  08 aus dem Aufhören einer Beschwerde das Frohsein. Dieses aber,      
  09 wegen der Befreiung von einer Gefahr, ist ein Frohsein mit dem Vorsatze,      
  10 sich derselben nie mehr auszusetzen; ja man mag an jene Empfindung      
  11 nicht einmal gerne zurückdenken, weit gefehlt, daß man die Gelegenheit      
  12 dazu selbst aufsuchen sollte.      
           
  13 Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich      
  14 aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend,      
  15 Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen      
  16 Verwüstung, der gränzenlose Ocean, in Empörung gesetzt, ein      
  17 hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen      
  18 zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden      
  19 Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer      
  20 er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen      
  21 diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches      
  22 Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz      
  23 anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit      
  24 der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.      
           
  25 Denn so wie wir zwar an der Unermeßlichkeit der Natur und der      
  26 Unzulänglichkeit unseres Vermögens einen der ästhetischen Größenschätzung      
  27 ihres Gebiets proportionirten Maßstab zu nehmen unsere eigene Einschränkung,      
  28 gleichwohl aber doch auch an unserm Vernunftvermögen zugleich      
  29 einen andern, nicht=sinnlichen Maßstab, welcher jene Unendlichkeit      
  30 selbst als Einheit unter sich hat, gegen den alles in der Natur klein ist,      
  31 mithin in unserm Gemüthe eine Überlegenheit über die Natur selbst in      
  32 ihrer Unermeßlichkeit fanden: so giebt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer      
  33 Macht uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu      
  34 erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig      
  35 zu beurtheilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich      
  36 eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die      
  37 von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden      
           
     

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