Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 060

     
           
 

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  01 setzen, weil die Schuld uns im letztern Falle um nichts minder trifft, als      
  02 im ersteren, als die wir von ihm nicht verführt werden würden, wenn wir      
  03 mit ihm nicht im geheimen Einverständnisse wären*). - Wir wollen      
  04 diese ganze Betrachtung in zwei Abschnitte eintheilen.      
           
  05

Erster Abschnitt.

     
  06

Von dem Rechtsanspruche des guten Princips auf die Herrschaft

     
  07

über den Menschen.

     
           
  08

a) Personificirte Idee des guten Princips.

     
           
  09 Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses      
  10 und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit      
  11 (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen,      
  12 ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit      
  13 die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.      
  14 Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch "ist in ihm von Ewigkeit her" ;      
  15 die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes      
  16 Ding, sondern sein eingeborner Sohn, "das Wort (das Werde!)      
  17 durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existirt, was      
  18 gemacht ist" (denn um seinet=, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt,      
  19 Willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden      
  20 kann, ist alles gemacht). - "Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit."      
  21 "In ihm hat Gott die Welt geliebt", und nur in ihm und durch Annehmung      
           
    *) Es ist eine Eigenthümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlich=Gute vom Sittlich=Bösen nicht wie den Himmel von der Erde, sondern wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich und als solche empörend, nichts destoweniger aber ihrem Sinn nach philosophisch richtig ist. - Sie dient nämlich dazu, zu verhüten: daß das Gute und Böse, das Reich des Lichts und das Reich der Finsterniß, nicht als an einander gränzend und durch allmähliche Stufen (der größern und mindern Helligkeit) sich in einander verlierend gedacht, sondern durch eine unermeßliche Kluft von einander getrennt vorgestellt werde. Die gänzliche Ungleichartigkeit der Grundsätze, mit denen man unter einem oder dem andern dieser zwei Reiche Unterthan sein kann, und zugleich die Gefahr, die mit der Einbildung von einer nahen Verwandtschaft der Eigenschaften, die zu einem oder dem andern qualificiren, verbunden ist, berechtigen zu dieser Vorstellungsart, die bei dem Schauderhaften, das sie in sich enthält, zugleich sehr erhaben ist.      
           
     

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