Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 066

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 reden können. Denn er würde alsdann nur von der Gesinnung sprechen,      
  02 die er sich selbst zur Regel seiner Handlungen macht, die er aber, da er sie      
  03 als Beispiel für andre, nicht für sich selbst sichtbar machen kann, nur durch      
  04 seine Lehren und Handlungen äußerlich vor Augen stellt: "Wer unter euch      
  05 kann mich einer Sünde zeihen?" Es ist aber der Billigkeit gemäß, das      
  06 untadelhafte Beispiel eines Lehrers zu dem, was er lehrt, wenn dieses ohnedem      
  07 für jedermann Pflicht ist, keiner andern als der lautersten Gesinnung      
  08 desselben anzurechnen, wenn man keine Beweise des Gegentheils hat. Eine      
  09 solche Gesinnung mit allen um des Weltbesten willen übernommenen      
  10 Leiden, in dem Ideale der Menschheit gedacht, ist nun für alle Menschen      
  11 zu allen Zeiten und in allen Welten vor der obersten Gerechtigkeit vollgültig:      
  12 wenn der Mensch die seinige derselben, wie er es thun soll, ähnlich      
  13 macht. Sie wird freilich immer eine Gerechtigkeit bleiben, die nicht      
  14 die unsrige ist, sofern diese in einem jener Gesinnung völlig und ohne Fehl      
  15 gemäßen Lebenswandel bestehen müßte. Es muß aber doch eine Zueignung      
  16 der ersteren um der letzten willen, wenn diese mit der Gesinnung des Urbildes      
  17 vereinigt wird, möglich sein, obwohl sie sich begreiflich zu machen      
  18 noch großen Schwierigkeiten unterworfen ist, die wir jetzt vortragen wollen.      
           
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c) Schwierigkeiten gegen die Realität dieser Idee

     
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und Auflösung derselben.

     
           
  21 Die erste Schwierigkeit, welche die Erreichbarkeit jener Idee der Gott      
  22 wohlgefälligen Menschheit in uns in Beziehung auf die Heiligkeit des      
  23 Gesetzgebers bei dem Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit zweifelhaft      
  24 macht, ist folgende. Das Gesetz sagt: "Seid heilig (in eurem Lebenswandel),      
  25 wie euer Vater im Himmel heilig ist!" Denn das ist das Ideal des      
  26 Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbilde aufgestellt ist. Die Entfernung      
  27 aber des Guten, was wir in uns bewirken sollen, von dem Bösen, wovon      
  28 wir ausgehen, ist unendlich und sofern, was die That, d. i. die Angemessenheit      
  29 des Lebenswandels zur Heiligkeit des Gesetzes, betrifft, in keiner Zeit      
  30 erreichbar. Gleichwohl soll die sittliche Beschaffenheit des Menschen mit      
  31 ihr übereinstimmen. Sie muß also in der Gesinnung, in der allgemeinen      
  32 und lautern Maxime der Übereinstimmung des Verhaltens mit demselben,      
  33 als dem Keime, woraus alles Gute entwickelt werden soll, gesetzt werden,      
  34 die von einem heiligen Princip ausgeht, welches der Mensch in seine oberste      
  35 Maxime aufgenommen hat: eine Sinnesänderung, die auch möglich sein      
           
     

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