Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 080

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 durch die den Sklavensinn erschütternden moralischen Freiheitslehren der      
  02 griechischen Weltweisen, die auf dasselbe allmählig Einfluß bekommen      
  03 hatten, großentheils zum Besinnen gebracht, mithin zu einer Revolution      
  04 reif war, auf einmal eine Person, deren Weisheit noch reiner als die der      
  05 bisherigen Philosophen, wie vom Himmel herabgekommen war, und die      
  06 sich auch selbst, was ihre Lehren und Beispiel betraf, zwar als wahren      
  07 Menschen, aber doch als einen Gesandten solchen Ursprungs ankündigte,      
  08 der in ursprünglicher Unschuld in dem Vertrage, den das übrige Menschengeschlecht      
  09 durch seinen Repräsentanten, den ersten Stammvater, mit dem      
  10 bösen Princip eingegangen, nicht mitbegriffen war, ) und "an dem der      
  11 Fürst dieser Welt also keinen Theil hatte". Hierdurch war des letztern      
  12 Herrschaft in Gefahr gesetzt. Denn widerstand dieser Gott wohlgefällige      
           
    †) Eine vom angebornen Hange zum Bösen freie Person so als möglich sich zu denken, daß man sie von einer jungfräulichen Mutter gebären läßt, ist eine Idee der sich zu einem schwer zu erklärenden und doch auch nicht abzuläugnenden gleichsam moralischen Instinct bequemenden Vernunft; da wir nämlich die natürliche Zeugung, weil sie ohne Sinnenlust beider Theile nicht geschehen kann, uns aber doch auch (für die Würde der Menschheit) in gar zu nahe Verwandtschaft mit der allgemeinen Thiergattung zu bringen scheint, als etwas ansehen, dessen wir uns zu schämen haben eine Vorstellung, die gewiß die eigentliche Ursache von der vermeinten Heiligkeit des Mönchsstandes geworden ist, - welches uns also etwas Unmoralisches, mit der Vollkommenheit eines Menschen nicht Vereinbares, doch in seine Natur Eingepfropftes und also sich auch auf seine Nachkommen als eine böse Anlage Vererbendes zu sein deucht. - Dieser dunklen (von einer Seite bloß sinnlichen, von der andern aber doch moralischen, mithin intellectuellen) Vorstellung ist nun die Idee einer von keiner Geschlechtsgemeinschaft abhängigen (jungfräulichen) Geburt eines mit keinem moralischen Fehler behafteten Kindes wohl angemessen, aber nicht ohne Schwierigkeit in der Theorie (in Ansehung deren aber etwas zu bestimmen in praktischer Absicht gar nicht nöthig ist). Denn nach der Hypothese der Epigenesis würde doch die Mutter, die durch natürliche Zeugung von ihren Eltern abstammt, mit jenem moralischen Fehler behaftet sein und diesen wenigstens der Hälfte nach auch bei einer übernatürlichen Zeugung auf ihr Kind vererben; mithin müßte, damit dies nicht die Folge sei, das System der Präexistenz der Keime in den Eltern, aber auch nicht das der Entwickelung im weiblichen (weil dadurch jene Folge nicht vermieden wird), sondern bloß im männlichen Theile (nicht das der ovulorum , sondern der animalcul. sperm. ) angenommen werden; welcher Theil nun bei einer übernatürlichen Schwangerschaft wegfällt, und so jener Idee theoretisch angemessen jene Vorstellungsart vertheidigt werden könnte. - Wozu aber alle diese Theorie dafür oder dawider, wenn es für das Praktische genug ist, jene Idee als Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit uns zum Muster vorzustellen?      
           
     

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