Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 095

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 d. i. ein Reich der Tugend (des guten Princips), genannt werden kann,      
  02 wovon die Idee in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete      
  03 objective Realität hat (als Pflicht sich zu einem solchen Staate zu einigen),      
  04 wenn es gleich subjectiv von dem guten Willen der Menschen nie gehofft      
  05 werden könnte, daß sie zu diesem Zwecke mit Eintracht hinzuwirken sich      
  06 entschließen würden.      
           
  07

Erste Abtheilung.

     
  08

Philosophische Vorstellung des Sieges des guten Princips

     
  09

unter Gründung eines Reichs Gottes auf Erden.

     
           
  10

I

     
  11

Von dem ethischen Naturzustande.

     
           
  12 Ein rechtlich=bürgerlicher (politischer) Zustand ist das Verhältniß      
  13 der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen      
  14 Rechtsgesetzen (die insgesammt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein      
  15 ethisch=bürgerlicher Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien,      
  16 d. i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind.      
           
  17 So wie nun dem ersteren der rechtliche (darum aber nicht immer      
  18 rechtmäßige), d. i. der juridische Naturzustand entgegengesetzt wird,      
  19 so wird von dem letzteren der ethische Naturzustand unterschieden. In      
  20 beiden giebt ein jeder sich selbst das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem      
  21 er sich sammt allen andern unterworfen erkennte. In beiden ist ein jeder      
  22 sein eigner Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität      
  23 da, die nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei,      
  24 rechtskräftig bestimme und jene in allgemeine Ausübung bringe.      
           
  25 In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich      
  26 alle politische Bürger als solche doch im ethischen Naturzustande      
  27 und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger      
  28 zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch      
  29 ( in adjecto ), weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit      
  30 bei sich führt. Wünschen kann es wohl jedes politisch gemeine      
  31 Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüther nach Tugendgesetzen      
  32 angetroffen werde; denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen,      
  33 weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht      
  34 durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken.      
           
     

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