Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 109

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch (dergleichen      
  02 die Römer über den aussprachen, der wider des Senats Einwilligung über      
  03 den Rubicon ging) ausgestoßen und allen Höllengöttern übergeben. Die      
  04 angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Lehrer oder Häupter einer Kirche      
  05 in dem Punkte des Kirchenglaubens heißt Orthodoxie, welche man wohl      
  06 in despotische (brutale) und liberale Orthodoxie eintheilen könnte.      
  07 - Wenn eine Kirche, die ihren Kirchenglauben für allgemein verbindlich      
  08 ausgiebt, eine katholische, diejenige aber, welche sich gegen diese Ansprüche      
  09 anderer verwahrt (ob sie gleich diese öfters selbst gerne ausüben      
  10 möchte, wenn sie könnte), eine protestantische Kirche genannt werden      
  11 soll: so wird ein aufmerksamer Beobachter manche rühmliche Beispiele      
  12 von protestantischen Katholiken und dagegen noch mehrere anstößige von erzkatholischen      
  13 Protestanten antreffen; die erste von Männern einer sich erweiternden      
  14 Denkungsart (ob es gleich die ihrer Kirche wohl nicht ist),      
  15 gegen welche die letzteren mit ihrer eingeschränkten gar sehr, doch keineswegs      
  16 zu ihrem Vortheil abstechen.      
           
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VI

     
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Der Kirchenglaube hat zu seinem höchsten Ausleger den reinen

     
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Religionsglauben.

     
           
  20 Wir haben angemerkt, daß, obzwar eine Kirche das wichtigste Merkmal      
  21 ihrer Wahrheit, nämlich das eines rechtmäßigen Anspruchs auf Allgemeinheit,      
  22 entbehrt, wenn sie sich auf einen Offenbarungsglauben, der      
  23 als historischer (obwohl durch Schrift weit ausgebreiteter und der spätesten      
  24 Nachkommenschaft zugesicherter) Glaube doch keiner allgemeinen überzeugenden      
  25 Mittheilung fähig ist, gründet: dennoch wegen des natürlichen Bedürfnisses      
  26 aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen      
  27 immer etwas Sinnlich=Haltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung      
  28 u. d. g. zu verlangen (worauf man bei der Absicht einen Glauben      
  29 allgemein zu introduciren wirklich auch Rücksicht nehmen muß), irgend      
  30 ein historischer Kirchenglaube, den man auch gemeiniglich schon vor sich      
  31 findet, müsse benutzt werden.      
           
           
     

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