Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 170

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zuwider wirken könnte, es niederzudrücken*); diesem Verfahren legen wir      
  02 doch in unserer Meinung den Werth des Zwecks selbst, oder, welches eben      
  03 so viel ist, wir legen der Stimmung des Gemüths zur Empfänglichkeit      
  04 Gott ergebener Gesinnungen (Andacht genannt) den Werth der letztern      
  05 bei; welches Verfahren mithin ein bloßer Religionswahn ist, der allerlei      
  06 Formen annehmen kann, in deren einer er der moralischen ähnlicher sieht,      
  07 als in der andern, der aber in allen nicht eine bloß unvorsetzliche Täuschung,      
  08 sondern sogar eine Maxime ist, dem Mittel einen Werth an sich      
  09 statt des Zwecks beizulegen, da denn vermöge der letztern dieser Wahn      
  10 unter allen diesen Formen gleich ungereimt und als verborgene Betrugsneigung      
  11 verwerflich ist.      
           
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§ 2.

     
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Das dem Religionswahne entgegengesetzte moralische

     
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Princip der Religion.

     
           
  15 Ich nehme erstlich folgenden Satz als einen keines Beweises benöthigten      
  16 Grundsatz an: alles, was außer dem guten Lebenswandel      
  17 der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott      
  18 wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und      
  19 Afterdienst Gottes. - Ich sage: was der Mensch thun zu können      
           
    *) Für diejenigen, welche allenthalben, wo die Unterscheidungen des Sinnlichen vom Intellectuellen ihnen nicht so geläufig sind, Widersprüche der Kritik der reinen Vernunft mit ihr selbst anzutreffen glauben, merke ich hier an, daß, wenn von sinnlichen Mitteln das Intellectuelle (der reinen moralischen Gesinnung) zu befördern, oder von dem Hindernisse, welches die erstere dem letzteren entgegen stellen, geredet wird, dieser Einfluß zweier so ungleichartigen Principien niemals als direct gedacht werden müsse. Nämlich als Sinnenwesen können wir nur an den Erscheinungen des intellectuellen Princips, d. i. der Bestimmung unserer physischen Kräfte durch freie Willkür, die sich in Handlungen hervorthut, dem Gesetz entgegen, oder ihm zu Gunsten wirken: so daß Ursache und Wirkung als in der That gleichartig vorgestellt werde. Was aber das Übersinnliche (das subjective Princip der Moralität in uns, was in der unbegreiflichen Eigenschaft der Freiheit verschlossen liegt), z. B. die reine Religionsgesinnung, betrifft, von dieser sehen wir außer ihrem Gesetze (welches aber auch schon genug ist) nichts das Verhältniß der Ursache und Wirkung im Menschen Betreffendes ein, d. i. wir können uns die Möglichkeit der Handlungen als Begebenheiten in der Sinnenwelt aus der moralischen Beschaffenheit des Menschen, als ihnen imputabel, nicht erklären, eben darum weil es freie Handlungen sind, die Erklärungsgründe aber aller Begebenheiten aus der Sinnenwelt hergenommen werden müssen.      
           
     

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