Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 175

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 heißt schwärmerisch, wo sogar das eingebildete Mittel, als übersinnlich,      
  02 nicht in dem Vermögen des Menschen ist, ohne noch auf die Unerreichbarkeit      
  03 des dadurch beabsichtigten übersinnlichen Zwecks zu sehen; denn dieses      
  04 Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens und die Unterscheidung      
  05 desselben von jedem andern, selbst dem moralischen Gefühl wäre      
  06 eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur      
  07 kein Sinn ist. - Der abergläubische Wahn, weil er ein an sich für      
  08 manches Subject taugliches und diesem zugleich mögliches Mittel, wenigstens      
  09 den Hindernissen einer Gott wohlgefälligen Gesinnung entgegen zu      
  10 wirken, enthält, ist doch mit der Vernunft so fern verwandt und nur zufälliger      
  11 Weise dadurch, daß er das, was bloß Mittel sein kann, zum unmittelbar      
  12 Gott wohlgefälligen Gegenstande macht, verwerflich; dagegen      
  13 ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft,      
  14 ohne die doch gar keine Religion, als welche wie alle Moralität überhaupt      
  15 auf Grundsätze gegründet werden muß, statt finden kann.      
           
  16 Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Grundsatz      
  17 eines Kirchenglaubens ist also: daß dieser neben den statutarischen Sätzen,      
  18 deren er vorjetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Princip      
  19 in sich enthalten müsse, die Religion des guten Lebenswandels als das      
  20 eigentliche Ziel, um jener dereinst gar entbehren zu können, herbeizuführen.      
           
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§ 3.

     
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Vom Pfaffenthum ) als einem Regiment im Afterdienst

     
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des guten Princips.

     
           
  25 Die Verehrung mächtiger unsichtbarer Wesen, welche dem hülflosen      
  26 Menschen durch die natürliche auf dem Bewußtsein seines Unvermögens      
           
    *†) Diese bloß das Ansehen eines geistlichen Vaters (παππα) bezeichnende Benennung erhält nur durch den Nebenbegriff eines geistlichen Despotismus, der in allen kirchlichen Formen, so anspruchslos und populär sie sich ankündigen, angetroffen werden kann, die Bedeutung eines Tadels. Ich will daher keinesweges so verstanden sein, als ob ich in der Gegeneinanderstellung der Secten eine vergleichungsweise gegen die andere mit ihren Gebräuchen und Anordnungen geringschätzig machen wolle. Alle verdienen gleiche Achtung, so fern ihre Formen Versuche armer Sterblichen sind, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen; aber auch gleichen Tadel, wenn sie die Form der Darstellung dieser Idee (in einer sichtbaren Kirche) für die Sache selbst halten.      
           
     

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