Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 319

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 so würde er nach den Gesetzen derselben, d. i. mit allem Recht, bestraft,      
  02 vertilgt, oder (als vogelfrei, exlex ) ausgestoßen werden. - Ein      
  03 Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, daß es praktisch auch nur in      
  04 Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effect einen Augenblick zu suspendiren      
  05 schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen,      
  06 aber doch von irgend einem höchsten, tadelfreien Gesetzgeber herkommen      
  07 müsse, und das ist die Bedeutung des Satzes: "Alle Obrigkeit ist von      
  08 Gott," welcher nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung,      
  09 sondern eine Idee als praktisches Vernunftprincip aussagt: der jetzt bestehenden      
  10 gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag      
  11 sein, welcher er wolle.      
           
  12 Hieraus folgt nun der Satz: der Herrscher im Staat hat gegen den      
  13 Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs=)Pflichten. - Ferner, wenn      
  14 das Organ des Herrschers, der Regent, auch den Gesetzen zuwider verführe,      
  15 z. B. mit Auflagen, Recrutirungen u. dergl. wider das Gesetz der      
  16 Gleichheit in Vertheilung der Staatslasten, so darf der Unterthan dieser      
  17 Ungerechtigkeit zwar Beschwerden ( gravamina ), aber keinen Widerstand      
  18 entgegensetzen.      
           
  19 Ja es kann auch selbst in der Constitution kein Artikel enthalten      
  20 sein, der es einer Gewalt im Staat möglich machte, sich im Fall der Übertretung      
  21 der Constitutionalgesetze durch den obersten Befehlshaber ihm zu      
  22 widersetzen, mithin ihn einzuschränken. Denn der, welcher die Staatsgewalt      
  23 einschränken soll, muß doch mehr, oder wenigstens gleiche Macht      
  24 haben, als derjenige, welcher eingeschränkt wird, und als ein rechtmäßiger      
  25 Gebieter, der den Unterthanen befähle, sich zu widersetzen, muß er sie auch      
  26 schützen können und in jedem vorkommenden Fall rechtskräftig urtheilen,      
  27 mithin öffentlich den Widerstand befehligen können. Alsdann ist aber nicht      
  28 jener, sondern dieser der oberste Befehlshaber; welches sich widerspricht.      
  29 Der Souverän verfährt alsdann durch seinen Minister zugleich als Regent,      
  30 mithin despotisch, und das Blendwerk, das Volk durch die Deputirte desselben      
  31 die einschränkende Gewalt vorstellen zu lassen (da es eigentlich nur      
  32 die gesetzgebende hat), kann die Despotie nicht so verstecken, daß sie aus      
  33 den Mitteln, deren sich der Minister bedient, nicht hervorblickte. Das      
  34 Volk, das durch seine Deputirte (im Parlament) repräsentirt wird, hat an      
  35 diesen Gewährsmännern seiner Freiheit und Rechte Leute, die für sich      
  36 und ihre Familien und dieser ihre vom Minister abhängige Versorgung      
  37 in Armeen, Flotte und Civilämtern lebhaft interessirt sind, und die (statt      
           
     

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