Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 332

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe;" denn wenn die Gerechtigkeit      
  02 untergeht, so hat es keinen Werth mehr, daß Menschen auf      
  03 Erden leben. - Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem      
  04 Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände,      
  05 an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre      
  06 gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen      
  07 Wesen ersprießliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das      
  08 medicinische Collegium, das diesen Vorschlag thäte, mit Verachtung abweisen;      
  09 denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für      
  10 irgend einen Preis weggiebt.      
           
  11 Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die      
  12 öffentliche Gerechtigkeit sich zum Princip und Richtmaße macht? Kein      
  13 anderes, als das Princip der Gleichheit, (im Stande des Züngleins an      
  14 der Wage der Gerechtigkeit) sich nicht mehr auf die eine, als auf die      
  15 andere Seite hinzuneigen. Also: was für unverschuldetes Übel du      
  16 einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst      
  17 du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich      
  18 selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest      
  19 du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht ( ius talionis ) aber,      
  20 wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturtheil),      
  21 kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben;      
  22 alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden      
  23 Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der      
  24 reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten. - Nun scheint es zwar, daß      
  25 der Unterschied der Stände das Princip der Wiedervergeltung Gleiches      
  26 mit Gleichem nicht verstatte; aber wenn es gleich nicht nach dem Buchstaben      
  27 möglich sein kann, so kann es doch der Wirkung nach respective      
  28 auf die Empfindungsart der Vornehmeren immer geltend bleiben. - So      
  29 hat z. B. Geldstrafe wegen einer Verbalinjurie gar kein Verhältniß zur      
  30 Beleidigung, denn der des Geldes viel hat, kann diese sich wohl einmal      
  31 zur Lust erlauben; aber die Kränkung der Ehrliebe des Einen kann doch      
  32 dem Wehthun des Hochmuths des Anderen sehr gleich kommen: wenn      
  33 dieser nicht allein öffentlich abzubitten, sondern jenem, ob er zwar niedriger      
  34 ist, etwa zugleich die Hand zu küssen durch Urtheil und Recht genöthigt      
  35 würde. Eben so wenn der gewaltthätige Vornehme für die Schläge, die er      
  36 dem niederen, aber schuldlosen Staatsbürger zumißt, außer der Abbitte      
  37 noch zu einem einsamen und beschwerlichen Arrest verurtheilt würde, weil      
           
     

[ Seite 331 ] [ Seite 333 ] [ Inhaltsverzeichnis ]