Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 336

     
           
 

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  01 zu belegen, noch zweifelhaft bleibt. Zu beiden verleitet das Ehrgefühl.      
  02 Das eine ist das der Geschlechtsehre, das andere der Kriegsehre      
  03 und zwar der wahren Ehre, welche jeder dieser zwei Menschenclassen als      
  04 Pflicht obliegt. Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord      
  05 ( infanticidium maternale ); das andere der Kriegsgesellenmord commilitonicidium ),      
  06 das Duell. - Da die Gesetzgebung die Schmach einer      
  07 unehelichen Geburt nicht wegnehmen und eben so wenig den Fleck, welcher      
  08 aus dem Verdacht der Feigheit, der auf einen untergeordneten Kriegsbefehlshaber      
  09 fällt, welcher einer verächtlichen Begegnung nicht eine über      
  10 die Todesfurcht erhobene eigene Gewalt entgegensetzt, wegwischen kann:      
  11 so scheint es, daß Menschen in diesen Fällen sich im Naturzustande befinden      
  12 und Tödtung ( homicidium ), die alsdann nicht einmal Mord ( homicidium      
  13 dolosum ) heißen müßte, in beiden zwar allerdings strafbar sei,      
  14 von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden.      
  15 Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn      
  16 das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben geboren. Es ist      
  17 in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Waare), so      
  18 daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existiren      
  19 sollen), mithin auch seine Vernichtung ignoriren kann, und die Schande      
  20 der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine      
  21 Verordnung heben. - Der zum Unter=Befehlshaber eingesetzte Kriegesmann,      
  22 dem ein Schimpf angethan wird, sieht sich eben sowohl durch die      
  23 öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes genöthigt, sich Genugthuung      
  24 und, wie im Naturzustande, Bestrafung des Beleidigers nicht      
  25 durchs Gesetz, vor einem Gerichtshofe, sondern durch das Duell, darin er      
  26 sich selbst der Lebensgefahr aussetzt, zu verschaffen, um seinen Kriegsmuth      
  27 zu beweisen, als worauf die Ehre seines Standes wesentlich beruht, sollte      
  28 es auch mit der Tödtung seines Gegners verbunden sein, die in diesem      
  29 Kampfe, der öffentlich und mit beiderseitiger Einwilligung, doch auch ungern      
  30 geschieht, eigentlich nicht Mord ( homicidium dolosum ) genannt      
  31 werden kann. - - Was ist nun in beiden (zur Criminalgerechtigkeit gehörigen)      
  32 Fällen Rechtens? - Hier kommt die Strafgerechtigkeit gar sehr      
  33 ins Gedränge: entweder den Ehrbegriff (der hier kein Wahn ist) durchs      
  34 Gesetz für nichtig zu erklären und so mit dem Tode zu strafen, oder von      
  35 dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so entweder      
  36 grausam oder nachsichtig zu sein. Die Auflösung dieses Knotens      
  37 ist: daß der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetzwidrige      
           
     

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