Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 386

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Denn eigene Glückseligkeit ist ein Zweck, den zwar alle Menschen      
  02 (vermöge des Antriebes ihrer Natur) haben, nie aber kann dieser Zweck      
  03 als Pflicht angesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Was ein      
  04 jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff      
  05 von Pflicht; denn diese ist eine Nöthigung zu einem ungern genommenen      
  06 Zweck. Es widerspricht sich also zu sagen: man sei verpflichtet      
  07 seine eigene Glückseligkeit mit allen Kräften zu befördern.      
           
  08 Eben so ist es ein Widerspruch: eines anderen Vollkommenheit      
  09 mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung für verpflichtet      
  10 zu halten. Denn darin besteht eben die Vollkommenheit eines andern      
  11 Menschen, als einer Person, daß er selbst vermögend ist sich seinen Zweck      
  12 nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht      
  13 sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas thun soll, was      
  14 kein anderer als er selbst thun kann.      
           
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V

     
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Erläuterung dieser zwei Begriffe.

     
           
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A.

     
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Eigene Vollkommenheit.

     
           
  19 Das Wort Vollkommenheit ist mancher Mißdeutung ausgesetzt.      
  20 Es wird bisweilen als ein zur Transscendentalphilosophie gehörender Begriff      
  21 der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein      
  22 Ding ausmacht, - dann aber auch, als zur Teleologie gehörend, so      
  23 verstanden, daß es die Zusammenstimmung der Beschaffenheiten eines      
  24 Dinges zu einem Zwecke bedeutet. Man könnte die Vollkommenheit in      
  25 der ersteren Bedeutung die quantitative (materiale), in der zweiten die      
  26 qualitative (formale) Vollkommenheit nennen. Jene kann nur eine sein      
  27 (denn das All des einem Dinge Zugehörigen ist Eins). Von dieser aber      
  28 kann es in einem Dinge mehrere geben; und von der letzteren wird hier      
  29 auch eigentlich gehandelt.      
           
  30 Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Menschheit)      
  31 zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß, sie sich zum Zweck zu      
  32 machen, an sich selbst Pflicht sei, so muß sie in demjenigen gesetzt werden,      
  33 was Wirkung von seiner That sein kann, nicht was blos Geschenk ist, das      
  34 er der Natur verdanken muß; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann      
           
     

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