Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 399

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01

XII

   
  02

Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths

   
  03

für Pflichtbegriffe überhaupt.

   
           
  04 Es sind solche moralische Beschaffenheiten, die, wenn man sie nicht    
  05 besitzt, es auch keine Pflicht geben kann sich in ihren Besitz zu setzen.    
  06 Sie sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten    
  07 und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung), welche zu haben    
  08 es keine Verbindlichkeit giebt: weil sie als subjective Bedingungen der    
  09 Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objective Bedingungen    
  10 der Moralität zum Grunde liegen. Sie sind insgesammt ästhetisch und    
  11 vorhergehende, aber natürliche Gemüthsanlagen ( praedispositio ) durch    
  12 Pflichtbegriffe afficirt zu werden; welche Anlagen zu haben nicht als Pflicht    
  13 angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat und kraft deren er    
  14 verpflichtet werden kann. - Das Bewußtsein derselben ist nicht empirischen    
  15 Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes,    
  16 als Wirkung desselben aufs Gemüth, folgen.    
           
  17

a.

   
  18

Das moralische Gefühl.

   
           
  19 Dieses ist die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust blos aus dem    
  20 Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung    
  21 mit dem Pflichtgesetze. Alle Bestimmung der Willkür aber geht von    
  22 der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder    
  23 Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur That;    
  24 wo der ästhetische Zustand (der Afficirung des inneren Sinnes) nun    
  25 entweder ein pathologisches oder moralisches Gefühl ist. - Das    
  26 erstere ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht,    
  27 das letztere das, was nur auf diese folgen kann.    
           
  28 Nun kann es keine Pflicht geben ein moralisches Gefühl zu haben,    
  29 oder sich ein solches zu erwerben; denn alles Bewußtsein der Verbindlichkeit    
  30 legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe    
  31 liegt, bewußt zu werden: sondern ein jeder Mensch (als ein moralisches    
  32 Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann    
  33 nur darauf gehen, es zu cultiviren und selbst durch die Bewunderung    
           
     

[ Seite 398 ] [ Seite 400 ] [ Inhaltsverzeichnis ]