Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 404

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und können auch nur auf solche Art beweisend sein. - Und gleichwohl ist      
  02 dies der gewöhnliche Handgriff der Überredungskunst.      
           
  03 Zweitens. Der Unterschied der Tugend vom Laster kann nie in      
  04 Graden der Befolgung gewisser Maximen, sondern muß allein in der      
  05 specifischen Qualität derselben (dem Verhältniß zum Gesetz) gesucht      
  06 werden; mit andern Worten, der belobte Grundsatz (des Aristoteles), die      
  07 Tugend in dem Mittleren zwischen zwei Lastern zu setzen, ist falsch*).      
  08 Es sei z. B. gute Wirthschaft, als das Mittlere zwischen zwei Lastern,      
  09 Verschwendung und Geiz, gegeben: so kann sie als Tugend nicht durch      
  10 die allmählige Verminderung des ersten beider genannten Laster (Ersparung),      
  11 noch durch die Vermehrung der Ausgaben des dem letzteren Ergebenen      
  12 als entspringend vorgestellt werden: indem sie sich gleichsam nach      
  13 entgegengesetzten Richtungen in der guten Wirthschaft begegneten; sondern      
  14 eine jede derselben hat ihre eigene Maxime, die der andern nothwendig      
  15 widerspricht.      
           
  16 Eben so wenig und aus demselben Grunde kann kein Laster überhaupt      
  17 durch eine größere Ausübung gewisser Absichten, als es zweckmäßig      
  18 ist ( e. g. prodigalitas est excessus in consumendis opibus ), oder      
  19 durch die kleinere Bewirkung derselben, als sich schickt ( e. g. avaritia est      
  20 defectus etc.), erklärt werden. Denn da hiedurch der Grad gar nicht      
  21 bestimmt wird, auf diesen aber, ob das Betragen pflichtmäßig sei oder      
  22 nicht, Alles ankommt: so kann es nicht zur Erklärung dienen.      
           
  23 Drittens: die ethischen Pflichten müssen nicht nach den dem Menschen      
  24 beigelegten Vermögen dem Gesetz Gnüge zu leisten, sondern umgekehrt:      
  25 das sittliche Vermögen muß nach dem Gesetz geschätzt werden, welches      
  26 kategorisch gebietet: also nicht nach der empirischen Kenntniß, die wir      
           
    *) Die gewöhnlichen, der Sprache nach ethisch=classische Formeln: medio tutissimus ibis: omne nimium vertitur in vitium; est modus in rebus, etc.; medium tenuere beati; insani sapiens nomen habeat etc. enthalten eine schale Weisheit, die gar keine bestimmte Principien hat: denn dieses Mittlere zwischen zwei äußeren Enden, wer will mir es angeben? Der Geiz (als Laster) ist von der Sparsamkeit (als Tugend) nicht darin unterschieden, daß diese zu weit getrieben wird, sondern hat ein ganz anderes Princip (Maxime), nämlich den Zweck der Haushaltung nicht im Genu seines Vermögens, sondern mit Entsagung auf denselben blos im Besitz desselben zu setzen: so wie das Laster der Verschwendung nicht im Übermaße des Genusses seines Vermögens, sondern in der schlechten Maxime zu suchen ist, die den Gebrauch, ohne auf die Erhaltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht.      
           
     

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