Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 409

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 oder vielmehr darin ausarten läßt. Man nennt den Affect dieser      
  02 Art Enthusiasm, und dahin ist auch die Mäßigung zu deuten, die      
  03 man selbst für Tugendausübungen zu empfehlen pflegt ( insani sapiens      
  04 nomen habeat aequus iniqui - ultra quam satis est virtutem si petat      
  05 ipsam Horat. ). Denn sonst ist es ungereimt zu wähnen, man könne      
  06 auch wohl allzuweise, allzutugendhaft sein. Der Affect gehört immer      
  07 zur Sinnlichkeit; er mag durch einen Gegenstand erregt werden, welcher      
  08 es wolle. Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüth in Ruhe      
  09 mit einer überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz in Ausübung zu      
  10 bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im moralischen Leben;      
  11 dagegen der Affect, selbst wenn er durch die Vorstellung des Guten aufgeregt      
  12 wird, eine augenblicklich glänzende Erscheinung ist, welche Mattigkeit      
  13 hinterläßt. - Phantastisch=tugendhaft aber kann doch der genannt      
  14 werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge      
  15 ( adiaphora ) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten      
  16 als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich      
  17 mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt,      
  18 nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme,      
  19 die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde.      
           
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Anmerkung.
     
           
  21 Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch      
  22 immer von vorne an. - Das erste folgt daraus, weil sie, objectiv      
  23 betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig      
  24 zu nähern dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjectiv,      
  25 auf der mit Neigungen afficirten Natur des Menschen, unter      
  26 deren Einfluß die Tugend mit ihren einmal für allemal genommenen      
  27 Maximen niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern,      
  28 wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt: weil sittliche Maximen      
  29 nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet werden können      
  30 (denn dieses gehört zur physischen Beschaffenheit seiner Willensbestimmung),      
  31 sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit      
  32 würde, das Subject damit die Freiheit in Nehmung seiner Maximen      
  33 einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus      
  34 Pflicht ist.      
           
           
     

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