Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 423

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Das Subject der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben      
  02 so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist,      
  03 aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über      
  04 sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponiren, heißt die      
  05 Menschheit in seiner Person ( homo noumenon ) abwürdigen, der noch der      
  06 Mensch ( homo phaenomenon ) zur Erhaltung anvertrauet war.      
           
  07 Sich eines integrirenden Theils als Organs berauben (verstümmeln),      
  08 z. B. einen Zahn zu verschenken oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade      
  09 eines andern zu pflanzen, oder die Castration mit sich vornehmen zu      
  10 lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen      
  11 Selbstmorde; aber nicht ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes      
  12 und hiemit dem Leben nachtheiliges Organ durch Amputation,      
  13 oder, was zwar ein Theil, aber kein Organ des Körpers ist, z. E. die      
  14 Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an seiner eigenen      
  15 Person gerechnet werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei      
  16 ist, wenn er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.      
           
  17
Casuistische Fragen.
     
           
  18 Ist es Selbstmord, sich (wie Curtius) in den gewissen Tod zu stürzen,      
  19 um das Vaterland zu retten? - oder ist das vorsetzliche Märterthum, sich      
  20 für das Heil des Menschengeschlechts überhaupt zum Opfer hinzugeben,      
  21 auch wie jenes für Heldenthat anzusehen?      
           
  22 Ist es erlaubt dem ungerechten Todesurtheile seines Oberen durch      
  23 Selbsttödtung zuvor zu kommen? - selbst wenn dieser es (wie Nero am      
  24 Seneca) erlaubte zu thun?      
           
  25 Kann man es einem großen unlängst verstorbenen Monarchen zum      
  26 verbrecherischen Vorhaben anrechnen, daß er ein behend wirkendes Gift      
  27 bei sich führte, vermuthlich damit, wenn er in dem Kriege, den er persönlich      
  28 führte, gefangen würde, er nicht etwa genöthigt sei, Bedingungen der      
  29 Auslösung einzugehn, die seinem Staate nachtheilig sein könnten; denn      
  30 diese Absicht kann man ihm unterlegen, ohne daß man nötig hat, hierunter      
  31 einen bloßen Stolz zu vermuthen?      
           
  32 Ein Mann empfand schon die Wasserscheu, als Wirkung von dem      
  33 Biß eines tollen Hundes, und nachdem er sich darüber so erklärt hatte:      
  34 er habe noch nie erfahren, daß jemand daran geheilt worden sei, brachte      
  35 er sich selbst um, damit, wie er in einer hinterlassenen Schrift sagte, er      
           
     

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