Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 428

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Casuistische Fragen.
     
           
  02 Kann man dem Wein, wenn gleich nicht als Panegyrist, doch wenigstens      
  03 als Apologet einen Gebrauch verstatten, der bis nahe an die Berauschung      
  04 reicht: weil er doch die Gesellschaft zur Gesprächigkeit belebt und      
  05 damit Offenherzigkeit verbindet? - Oder kann man ihm wohl gar das      
  06 Verdienst zugestehen, das zu befördern, was Seneca vom Cato rühmt:      
  07 virtus eius incaluit mero ? - Der Gebrauch des Opium und Branntweins      
  08 sind als Genießmittel der Niederträchtigkeit näher, weil sie bei      
  09 dem geträumten Wohlbefinden stumm, zurückhaltend und unmittheilsam      
  10 machen, daher auch nur als Arzneimittel erlaubt sind. - Wer kann aber      
  11 das Maß für einen bestimmen, der in den Zustand, wo er zum Messen      
  12 keine klare Augen mehr hat, überzugehen eben in Bereitschaft ist? Der      
  13 Mohammedanism, welcher den Wein ganz verbietet, hat also sehr schlecht      
  14 gewählt, dafür das Opium zu erlauben.      
           
  15 Der Schmaus, als förmliche Einladung zur Unmäßigkeit in beiderlei      
  16 Art des Genusses, hat doch außer dem blos physischen Wohlleben noch      
  17 etwas zum sittlichen Zweck Abzielendes an sich, nämlich viel Menschen und      
  18 lange zu wechselseitiger Mittheilung zusammen zu halten: gleichwohl aber,      
  19 da eben die Menge (wenn sie, wie Chesterfield sagt, über die Zahl der      
  20 Musen geht) nur eine kleine Mittheilung (mit den nächsten Beisitzern)      
  21 erlaubt, mithin die Veranstaltung jenem Zweck widerspricht, so bleibt sie      
  22 immer Verleitung zum Unsittlichen, nämlich der Unmäßigkeit, der Übertretung      
  23 der Pflicht gegen sich selbst; auch ohne auf die physischen Nachtheile      
  24 der Überladung, die vielleicht vom Arzt gehoben werden können, zu      
  25 sehen. Wie weit geht die sittliche Befugniß, diesen Einladungen zur Unmäßigkeit      
  26 Gehör zu geben?      
           
  27

Zweites Hauptstück.

     
  28

Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos als ein

     
  29

moralisches Wesen.

     
           
  30 Sie ist den Lastern: Lüge, Geiz und falscher Demuth (Kriecherei)      
  31 entgegen gesetzt.      
           
           
     

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