Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 441

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Zweiter Abschnitt.
     
  02
Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst.
     
           
  03
§ 14.
     
           
  04 Dieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach      
  05 deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit      
  06 zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der      
  07 moralischen in Beziehung auf deine Pflicht - dein Herz, - ob es gut      
  08 oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und      
  09 was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend,      
  10 oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden      
  11 kann und zum moralischen Zustande gehören mag.      
           
  12 Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwerer zu ergründende      
  13 Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen      
  14 Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung      
  15 des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu      
  16 allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm      
  17 genistelten Willens) und dann die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen      
  18 Anlage eines guten Willens in ihm zu entwickeln (nur die      
  19 Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung).      
           
  20
§ 15.
     
           
  21 Dieses moralische Selbsterkenntniß wird erstlich die schwärmerische      
  22 Verachtung seiner selbst, als Mensch (seiner ganzen Gattung) überhaupt,      
  23 verbannen; denn sie widerspricht sich selbst. - Es kann ja nur      
  24 durch die herrliche in uns befindliche Anlage zum Guten, welche den Menschen      
  25 achtungswürdig macht, geschehen, daß er den Menschen, der dieser      
  26 zuwider handelt, (sich selbst, aber nicht die Menschheit in sich) verachtungswürdig      
  27 findet. - Dann aber auch widersteht sie auch der eigenliebigen      
  28 Selbstschätzung, bloße Wünsche, wenn sie mit noch so großer Sehnsucht      
  29 geschähen, da sie an sich doch thatleer sind und bleiben, für Beweise eines      
  30 guten Herzens zu halten (Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem      
  31 Herzenskündiger declarirter Wunsch). Unparteilichkeit in Beurtheilung      
  32 unserer selbst in Vergleichung mit dem Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse      
  33 seines inneren moralischen Werths oder Unwerths sind Pflichten      
           
     

[ Seite 440 ] [ Seite 442 ] [ Inhaltsverzeichnis ]